Ein ganz normales Wochenende oder 60 Jahre danach

Ein ganz normales Wochenende oder 60 Jahre danach
von 3. September 2019

Für sie ist Schule noch etwas Großes, Neues, Interessantes. Genau um 10:00 Uhr beginnt der Neue Lebensabschnitt und die Kinder warten mit großen Augen auf das was noch vor ihnen liegt.

60 Jahre später steht vor dem leeren Schulgebäude ein Kameramann und beobachtet zwei ältere Menschen die langsam den Weg entlang schlendern und sich eifrig unterhalten. Wortfetzen wie „damals gab es noch“ und „da werden Erinnerungen wach“ lassen den Kameramann aufhorchen und er richtet die Kamera auf die beiden Spaziergänger, die nach ihrer einstigen Einschulung als erste an diesem, für sie historischen Ort ankommen. Es ist Sonntag, der 01.09.2019.

Bald schon füllt sich der Platz mit den Schülern von einst, denen das Leben inzwischen manche Falte ins Gesicht gezeichnet hat. Und so beginnt ein Umarmen, ein Suchen nach den vergangenen Namen, begleitet von erstaunten Ausrufen „Ach du bist es.“ Es sind die losgelassenen Erinnerungen, die plötzlich hochsteigen und die Seelen dieser in Jahre gekommenen Menschen plötzlich wieder zu Pennälern werden lassen. Selbst die alte Schule scheint ein wenig aufzuleben und harrt der Dinge, die da kommen. Und die kommen, in Form von Fräulein Müller. Vor 60 Jahren empfing sie als Grundschullehrerin im Alter von 31 Jahren die erwartungsvollen Kinder. Heute empfangen genau dieselben „Kinder“ eine erwartungsvolle Lehrerin, die noch nicht so genau weiß, was auf sie zukommt.

Jürgen Seilkopf, der die Sache eingefädelt hat, holt die alte Dame aus ihrem Auto und ein herzliches Hallo beginnt. An manchen Namen kann sich Fräulein Müller sofort erinnern, bei anderen muss sie doch erst überlegen. So hat ein jeder seine Spuren mal mehr und mal weniger hinterlassen. Jürgen hat inzwischen eine ABC-Schützentafel aufgestellt auf der mit Kreidelettern dieses historische Ereignis angekündigt wird. Fräulein Müller und eine weitere Deutschlehrerin, die die Truppe nur als „Fräulein Winkler“ aus dieser Zeit kennt, sind gerührt und können diesen Trubel gar nicht so recht fassen. In diesen Momenten scheint die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verschmelzen und man glaubt sogleich ein Schulklingeln zu vernehmen, sowie das Stimmengewirr von schreienden, lachenden und springenden Kindern. Springen fällt einigen wohl 60 Jahre danach doch etwas schwer, aber das Stimmengewirr erfüllt den ehemaligen Schulhof, der zwar inzwischen verwildert ist, aber von seinem Charme und vor allem von seinen Erinnerungen gar nichts eingebüßt hat.

So stellt man sich für ein Gruppenfoto auf und betritt erwartungsvoll die heiligen Hallen oder Klassenräume. Plötzlich öffnen sich zugemauerte Türen und ein gewichtiger Lehrer tritt im Geiste aller in den Raum, noch schnell an seinem Zigarrenstumpen ziehend und dann denselben in der Jackentasche verschwinden lassend. Der Raum scheint plötzlich wieder nach kalten Tabak zu riechen und alle vermeinen diesen uralten Duft wahrzunehmen. Man weiß noch, wo man saß und schnell hat Jürgen die Tafel hereingeholt und die beiden alten Lehrerinnen in Position gebracht. Fräulein Müller schreibt „Mimi sitzt am Fenster“, wobei sie statt des Wortes „Fenster“ schlicht ein Fenster malt. Artig stellen sich alle Schüler auf und lesen mehrmals den Text nach, sehr zur Freude von Fräulein Müller und „Fräulein Winkler“. Gleich darauf durchstreift man die alten Räume und erinnert sich auch an einen frechen Buben, der einst durch ein Fenster abhaute. Hach, war das ein Spaß.

Mag das Haus und die ehemaligen Schüler in die Jahre gekommen sein, hier begann ihre entscheidende Lebenswende, die jeden an seinen heutigen Platz führte. Auf dem Schulhof sortiert der Fotograf und Kameramann alle „Schüler“ und stellt eine Pausenhofszene nach. Fräulein Müller als Pausenaufsicht, steht gewichtig hinter einer Tafel mit der Aufschrift „Pause“, ihre Kollegin „Fräulein Winkler“ mit in die Hüften gestemmten Armen zwischen den Schülern. Einige Schüler tanzen, einige unterhalten sich oder fallen sich in die Arme und Jürgen schaut den Mädels unterm Rock und fühlt sich pudelwohl als kleiner Tunichtgut. Viel zu schnell vergeht die Zeit.

Die Gruppe will heute noch ein wenig im “Krug zum grünen Kranze“ zusammensitzen. Nur schwer vermag Jürgen sie zum Ausgang zu drängen und es wird noch ein letzter Blick auf das Gebäude mit dem Klassenzimmer geworfen, das sich auf dem Gelände der jetzigen Feuerwehr befindet. Fräulein Müller sitzt bald schon wieder im Auto und ihr Lächeln ist immer noch zu sehen. Dieser Tag hat sie dann doch beeindruckt und die inzwischen 91 Jahre alte Frau scheint glücklich zu sein. Langsam entfernen sich die ehemaligen Erstklässler mit ihren Autos, nehmen Abschied von ihrer Schule, um sich den Erinnerungen hinzugeben.

Der Kameramann macht einen letzten Schwenk auf das nun wieder leere Gebäude, dass doch noch einmal eine gewisse Schulathmospäre erleben durfte. Es wird wieder ruhig in diesem ehemaligen Fischerdorf und kein Bauer befindet sich auf den Feldern, die es so schon lange nicht mehr gibt.

Es ist Sonntag, ein ganz normales Wochenende im Jahre 2019, 60 Jahre nach der Einschulung.