Reise zur Backsteingotik

von 21. November 2021

Die eigentliche Eierei beginnt dann auf dem Weg nach Rathenow. Wir wollten zum Optikpark, einem Blumenpark, aber das Navi sagte uns schon im Voraus, dass der Optikpark Mitte Oktober geschlossen hat. Nun gut, als gut vorbereiteter Mensch hatte ich mehrere Ziele eingespeichert. Tangermünde war noch zu früh, also nahm ich aus dem Speicher ein neues Ziel, als wieder dieses kleine hämisch grinsende Desaster gnadenlos zuschlug. Google akzeptierte plötzlich kein anderes Ziel mehr und beharrte stur auf Rathenow. Da wollten wir aber gar nicht mehr hin, es gab dort nichts weiter. Doch das Programm weigerte sich stur und brachte mich zur Raserei. Google war kaputt. Ich war in meinen Schimpfworten hässlich! Aus irgendeinem Grunde starte ich das Handy neu und wir konnten ein neues Ziel wählen. Und dann geschah das Merkwürdige. Google hatte gewonnen. Wir fuhren trotzdem nach Rathenow.

Rathenow ist ein Städtchen direkt an der Havel und hat den Zusatz Optikstadt, was auch den Optikpark erklärt, der nicht besuchbar war. Wenn man eine Stadt besucht und den Stadtkern sucht, kann man sich meistens an der Kirche orientieren. Den Weg nahmen wir erst mal, da der Backsteinbau unsere Blicke sofort auf sich zog. Immerhin begann Otto von Bismarck hier 1875 seine politische Laufbahn, womit wir schon wieder mitten in der Geschichte des Ortes waren. Auf dem Weg zur Kirche begegneten wir dem Kurfürstendenkmal. Der Kurfürst Friedrich Wilhelm besiegte in der Schlacht von Fehrbellin (60 km nördl. von Berlin) 1675 die Schweden. Als römischer Imperator auf seinem Sandsteinpodest mit den huldvollsten Worten umgeben, von vier mächtigen, bärtigen Männern in Ketten umringt, überdauert er die Zeit. So ein Denkmal brauche ich. Meine beste Freundin stimmt mir per WhatsApp nicht nur zu, sondern beansprucht eins für sich. Nun gut, das kann ich mir vorstellen, ein 1,60 m lässt sich wohl relativ schnell bewerkstelligen. An der Havel entlang „begegnen“ uns drei Männer aus Metall, die die Schleusenspucker darstellen. Hier wird das einfache Volk lebendig, dass zur Zeit der Schiffsfahrten sich als Tagelöhner verdingte und auf die Schiffe wartete, um sie zu entladen. In der Wartezeit klönten sie, tranken ein Bierchen und machten Weit spucken in die Havel, das brachte ihnen den Namen und dieses Denkmal ein. Wo einer einen Hund füttert, der andere mit Bierflasche klönt (quatscht, sich unterhält) und der 3. zum Spucken ansetzt. Endlich erreichen wir über eine Brücke inmitten wunderschöner Herbstbäume die künstliche Altstadtinsel, auf der die Backsteinkirche steht. Um die Kirche drumherum gruppieren sich die ältesten Häuser Rathenows aus dem späten 16. Jahrhundert. Uns begegnet dort das Haus von Johann Heinrich August Duncker, der in Halle 1786 Theologie studierte. Danach produzierte und verkaufte er in seinem Pfarrhaus Mikroskope und Brillen. Er hatte die richtige Durchsicht. Zwar gab es schon Brillen, die in Frankreich produziert wurden, aber ein Importverbot gab es eben auch durch die bayrischen Brillen. Die Bayern können viel, vor allem Schweinebraten, Bier, Leberkas und Eisbein. Die Brillen, die man von ihnen aufsetzte, waren in ihrer Durchsicht, einem, sagen wir mal guten Lotteriespiel gleich, wo man etwas besser sah oder nicht. Dunckers Brillen waren um ein Vielfaches billiger und zusätzlich erfand er den Nassschliff mit mehreren Brillen gleichzeitig. Endlich konnten mehr Leute die Welt besser sehen. Diese Feinheiten erfuhren wir in der St. Marien – Andreas – Kirche, wo wir von einem freundlichen Mann angesprochen wurden, der uns sogleich die Geschichte von Rathenow als Optikstadt und der Kirche darbrachte. Wir tauchten ein in diese Geschichte, standen in der anfänglichen Holzkirche, die der gute Mann uns sogleich in ihrer Größe von 10 x 5m beschrieb. Er zeigte uns den Standort und schon begann sich in meinem Kopf die Gegend umzuformen. Damals gab es die künstliche Insel, auf der wir uns befanden, noch gar nicht, weil der Ringgraben erst viel später gezogen wurde. Wir begleiteten den Aufbau der Kirche, die erst romanisch war und dann immer größer gotische aufging. Albrecht der Bär wirkte hier, dessen Tochter Eilika und Gefolge in Halle ein blutiges Gemetzel im 12. Jahrhundert auslöste. Der zweite Weltkrieg brachte viel Zerstörung und auch diese Kirche blieb nicht verschont, weil hier die sowjetischen Truppen gegen frenetische Verteidiger kämpften. Zu leiden hatten wie immer die einfachen Menschen und die historischen Bauten. Wir erfuhren vom Aufbau der optischen Industrie, die zu einem Beschäftigungsboom führte. Zu DDR – Zeiten wurde die ganze Sache über mehrere Stufen volkseigen und nach der Wende vollständig abgewickelt, bis ein Mäzen kam. Herr Fielmann. Doch der wollte mehr als nur ein bisschen Optik. Hotels schwebten ihm vor, direkt an der Havel. Dagegen stemmten sich die Rathenower. Herr Fielmann war sauer, baute nur das Verwaltungsgebäude des ehemaligen Optikbetriebes um, stellte es der Stadt für 10 Jahre zur Miete zur Verfügung, um dann der Stadt die Entscheidung zu überlassen, das Gebäude zu kaufen. Eine deutsch – deutsche Geschichte nach der Wende. Das eingesparte Geld hätte der gute Mann an seine Angestellten zahlen können, aber er fand, die seien mit dem Grundlohn hervorragend bedient. Dem fehlte wohl doch die Durchsicht. Dieter Ilgner, unser Reiseleiter durch die Geschichte, schwebte durch die Zeit und durch die Kirche. Mit Händen und Füßen schritt er die ehemalige Kirche ab und präsentierte zum Schluss den alten Altar von 1380. Der war nicht nur wuchtig, sondern eine Wucht und zeigte biblische Geschichte. Über dem Altar erhoben sich riesige Kirchenfenster mit bunter Fensterornamentik, die ebenfalls biblische Interpretationen zeigten, die sich aufgrund ihrer Modernität ohne Handbuch oder Herrn Ilgner nur schwer erfassen ließen. Dem Mann, der bedächtig und ruhig mit kleinen Seitenhieben auf so manche Begebenheit reagiert, merkte man aber seine gewisse Begeisterung für Geschichte an. Auch ein richtiger Bischof besuchte privat die Kirche, wollte aber nicht viel von der Geschichte hören, winkte müde ab, er sei ein großer Chef, besah sich die Kirche, die noch einige Schäden hatte und befand, dass ihm der jetzige Zustand gefalle. Somit war wohl Herr IIgners Vorstellung von einer vollständigen Restaurierung Geschichte. Gott hat manchmal selbstherrliche Angestellte befand ich nun wieder, in der Jetztzeit angekommen.

Eine Stunde später waren wir schon wieder an einem geschichtsträchtigen Ort – Tangermünde. Wir begegneten dort statt einem Herrn Ilgner, Frau Marina Wienecke, eine Freie Stadträtin für Wirtschaftsförderung und Tourismus, die gerade ein wenig Dienst in der Salzkirche tut. Doch vorher machten wir schon einen kleinen Rundgang durch die Innenstadt am Eulenturm vorbei. Die kleinen Fachwerkhäuser und der vergleichsweise winzige Park vor der Kirche in der historischen Langen Straße, die zum Neustädter Tor führen, sind faszinierend und animierten mich zum Fotografieren. Hier gab es Kuhschwanzbier und seltsam anmutende fantasievolle Speisen. Wir begegneten einem alten Bremer Paar, das sogleich mit uns ins Gespräch kam. 80 Jahre haben beide auf dem Buckel und sind noch rüstig. Wo sie herkommen, präsentierten sie uns mit ihrem Einkaufsbeutel, auf dem die Bremer Stadtmusikanten prangten. Bremen gefällt ihnen nicht mehr, hat sich zu sehr verändert. Das stimmte sie traurig. Sie stand lange auf der Bühne als eine bekannte Stadtfigur. Da kamen wir schnell ins Gespräch über Theater, Vergangenheiten und die übrige Welt.
Am Ende der Langen Straße erwartete uns das Neustädter Tor ganz in Backstein „gebacken“. Es ist nicht nur gewaltig und beeindruckend, sondern forderte meine Fantasie aufs Neue heraus. Ich sehe Pferdekarren, die Straße mit Pferdeäpfeln bedeckt und dem typischen Geruch. Die Stadtwächter schauen in die Karren, kontrollieren die Waren und alte Frauen tratschen in der Ecke, weil der alte Hufschmied ein Pferd falsch beschlagen hat. Ein Wagen verliert ein paar Äpfel, um die sich Kinder in abgerissenen Kleidern balgen. Der Fuhrmann flucht, hat kein Auge für das mittelalterliche Tor. Es ist für ihn nur mühevoller Alltag, für mich ist es vergangene Geschichte. Durch das Tor kamen wir zur Havel und sahen zur linken Seite die gewaltige Stadtmauer aus Backsteinen. Schon wieder war ich im Mittelalter, wo Schiffe am noch unbegradigten Ufer liegen. Aus dem Ausflugsdampfer werden in meiner Fantasie Transportkähne, eng beladen mit Holz, Salz, Gewürzen und all den Dingen, die eine Stadt braucht. Es herrscht geschäftiges Treiben, auf den Türmen der Stadtmauer äugen argwöhnisch in Harnisch gekleidete Soldaten. Man weiß ja nie. Durch ein paar Ein- und Ausgänge, sorgsam bewacht, strömen Händler und alles Volk.

Schon bald erreichten wir das Schloss, das einer Backsteinfestung gleicht. Karl der V. residierte hier und sein Denkmal steht stolz auf dem Berge, den wir erklimmen. Das verliebte Pärchen störte meine Zeitreise ein wenig, aber in dem Alter war mir die Liebe auch näher als die Geschichte. Die Begeisterung entwickelt sich erst mit dem Alter, schließlich kann ich jetzt auch Geschichten erzählen. Freilich nicht so weit ins Mittelalter reichende, schließlich entstand die Stadtmauer um 1300. Es erinnerte mich an Halle, wo die Mauer nicht aus Backsteinen und so hoch entstand, aber ebenfalls ein Bollwerk aus drei Mauerringen im späten Mittelalter war. Leider sind nur noch wenige Reste vorhanden. Aber Halle hat zu seiner Geschichte schon immer eine etwas vergessliche Beziehung. Die Stadträte haben nun mal anderes zu tun und für die Salzgeschichte sind die Halloren zuständig. Anders unsere oben erwähnte Stadträtin. Geduldig hört sie sich meinen Vortrag über unseren Verein an, war begeistert und will mich sofort engagieren. Schließlich hatte sie einst selbst eine Zeitschrift über Tangermünde herausgebracht und ich erfuhr über die Mühen der Ebene zu einer Zeit, als es noch keine Computer gab. So wusste ich bald einiges mehr über Tangermünde, über den noch heute existierenden Umzug Karl des V. durch das Neustädter Tor, was ich, wie soll es anders sein, mir hautnah vorstellen konnte. Für einen Moment bin ich Erasmus aus Halberstadt, eine Figur, die ich in Halle spiele und grüße hier den großen Kaiser. Heute jemand so zu grüßen, würde mir schwerer fallen.

Ich verteilte meine Visitenkarten und Frau Wienecke verspricht, sich unsere Verlags- und Vereinsseiten anzuschauen. Nach dieser Zeitreise von tausend Jahren vollgesogen mit Bildern und Erzählungen reisten wir nach Stendal zum Hotel zurück. Diesmal ohne Vorkommnisse. Das war dann das Seltsamste an diesem Tag.