„Ein Ausmaß wie ein Stasi-Ministerium“

von 22. Januar 2016

So stellten Veranstalter, Parteigänger und Lobbyisten am Donnerstagabend in der Theatrale denn auch gut die Hälfte der etwa 40 Teilnehmer an einer Wahldiskussionsforum „Du bist Politik: Kritik erwünscht“, zu dem die Landeszentrale für politische Bildung eingeladen und für die der Friedenskreis Halle mobilisiert hatte.

Das Forum begann zunächst mit einer 45-minütigen Suche nach und Sammlung von Meinungen, Wünschen und Anregungen zu verschiedenen Fragen des politischen Diskurses. Dann durften sich je zwei Politiker und Politikerinnen ohne Nennung der Partei, für die sie antreten, zu der Frage äußern, wie die Menschen aus der „Politikverdrossenheit“ geholt werden könnten. Durch Aufklärung, indem man auf die Menschen zugeht, ihnen Angebote macht, Kontakt aufnimmt, sich ihre Probleme anhört und dranbleibt, lauteten einige der Antworten. Eine Politikerin erklärte, dass sich der Parlamentarismus in Sachsen-Anhalt ändern muss. Heikle Themen würden vom Landtag gern in die Ausschüsse verwiesen, deren Sitzungen nicht öffentlich seien. Da gelte es, Transparenz herzustellen und die Sitzungen zu öffnen. Außerdem seien die Politiker nicht gewählt worden, um sich in allem einig zu sein, sondern um die unterschiedlichen Positionen offen zu diskutieren. Die andere Politikerin meinte, dass es für die Menschen oft schwierig nachzuvollziehen ist, wer wofür zuständig ist. Zum Beispiel wenn es um die Schule gehe, sei es im Fall der Gebäude die jeweilige Gemeinde, die Lehrer seien Sache des Landes. Der Zuständigkeitsdschungel müsse entflechtet werden. Die Menschen wären zur Wahl bereit, wenn sie mit ihren Anliegen Gehör fänden in Politik und Verwaltung.

„Politiker sollten für ihren Wahlkreis mehr tun“

Die anschließende offene Runde für Meinungen und Fragen des Publikums lief schleppend an. Los ging es dann mit der Anregung, Ehrenamtliche zu unterstützen, etwa wenn es darum geht, dass diese mit öffentlichen Nahverkehrsmittel kostengünstiger zu ihren Einsatzorten kommen. Die Aussage, die Politiker im Landtag sollten für ihren jeweiligen Wahlkreis mehr tun, konterte ein andere Bürger. Die Politiker des Landes müssten entscheiden, was für das Land gut ist. Integratives Denken wurde gefordert. So sei Halle an der Saale in seiner Entwicklung behindert, wenn die Gewerbeeinnahmen zu gering sind, weil Stadtgebietserweiterung wegen der besonderen Kreisstruktur (der Saalekreis umschließt Halle vollständig) nicht möglich sind.

Bildung sollte in der Hand des Bundes sein, erklärte ein Bürger. Die DDR habe ein gutes Bildungssystem gehabt, das von Skandinavien kopiert worden sei (Er meinte Finnland, das in den Pisa-Studien wiederholt auf Spitzenplätzen lag). Alle Jugendlichen, die die Schule verlassen, ob mit oder ohne Abschluss, ob früher oder später, sollten den Ersten und Zweiten Weltkrieg behandelt haben, sagte eine vom Friedenskreis aktivierte Gewerkschafterin. Diese Ausbildung sei wichtig, weil so Montagsdemos und Nazi-Demos verhindert werden könnten. Sie sprach damit das seit Frühjahr 2014 auf Halles Marktplatz anhaltende Ringen um Deutungshoheiten über Themen und Sichtweisen an (hallelife berichtete wiederholt darüber). Ein andere Besucher des Forums wollte das so nicht stehen lassen und nannte das, was sich bei den Gegendemos zur Montagsdemo abspielt, peinlich. Schließlich wurde die Sorge formuliert, dass man sich gegenseitig hochschaukelt. „Wir brauchen eine gute Kultur der Auseinandersetzung.“ Man solle sich gegenseitig anhören und dann die Probleme miteinander regeln. Das könne man in Schule, Familie und Öffentlichkeit lernen. Die Demos seien ein wichtiges Format des politischen Streits und der Demokratie, sage ein junger Mann. Die Polizei garantiere diese Auseinandersetzungen und ihr Einsatz sei nicht so teuer wie manch andere, weniger wichtige Ausgabe des Staates. Die Vorbildwirkung des Parlaments ist wichtig, erwiderte ein anderer Diskutant. Die Bevölkerung fühle sich nicht wahrgenommen. Die Demos und Anfeindungen seien der Versuch, sich Gehör zu verschaffen. Der Landtag solle inhaltlich und nicht parteipolitisch arbeiten. Das Parlament sei kein Vollstrecker der Parteien und der Regierung, sondern ein Organ zu deren Kontrolle.

„Es geht immer nur um entweder oder“

Das Interesse, Schülersprecher zu sein, ist nicht besonders groß, sagte der Sprecher vom Stadtschülerrat. Zu seiner Arbeit sagte er, dass der Schülerrat zu Themen Stellungen beziehen und so Einfluss nehmen könne. Er plädierte dafür, Worten auch Taten folgen zu lassen. Eine Bürgerin hingegen erklärte, sich hilflos zu fühlen bei der Frage, was sie tun kann gegen die Streichung von Geld für Halles Universität. Die Studenten sind so oft auf der Straße gewesen, haben Unterschriften gesammelt, ging die Diskussion im Publikum weiter. Geld sei genug da. Es sollte endlich sinnvoll ausgegeben werden. Für das neue Finanzamt seien 61 Millionen Euro dagewesen. An der Stelle warf einer der beiden Moderatoren ein, dass die Mehrheit entscheidet, wofür das Geld ausgegeben wird. Die Kritiker waren nun jedoch in Gang gekommen. „Die Steuergesetzgebung hat ein Ausmaß angenommen wie ein Stasi-Ministerium.“ Auf einem dynamischen Arbeitsmarkt hätten mehr Menschen Arbeit, war ein weiterer Gedanke. Das bedingungslose Grundeinkommen müsse her, aber SPD, CDU und Gewerkschaften seien dagegen gewesen. Ein Bürger wünschte sich mehr Ehrlichkeit sowie die Anwendung innovativer Methoden der Ideen- und Entscheidungsfindung. Er beklagte den Ist-Zustand: „Es geht immer nur um entweder oder.“ Schließlich war die Forderung zu hören, den „ungültigen Stimmen“ und Nicht-Wählern, die mit ihrem Stimmverhalten signalisieren, dass sie nichts von dem wollen, was im Angebot ist, mehr Aufmerksamkeit und Gewicht zu geben.

Nach der Bürgerrunde war die Reihe an den Politikern, ein Zwischenfazit zu ziehen. Die Politiker reagierten zunächst auf ein Statement und stellten richtig, dass es nicht Beamte sind, die etwas entscheiden, sondern Politiker. Das Ehrenamt zu stärken, sei richtig, nahmen sie eine der Anregungen auf. Nachdenklich stimme, wenn langjährige Wähler nun mit allen bisher gewählten Parteien unzufrieden seien. Die Grünen hätten sich lange für das bedingungslose Grundeinkommen eingesetzt, das aber vielleicht etwas aus den Augen verloren.

Im Bekanntenkreis wollen die meisten nicht zur Wahl gehen

Zum Schluss war nochmals das Publikum am Zug. Von dort kam ein Plädoyer für eine „flüssige Demokratie“. Wenn sich jemand für eine Aufgabe nicht kompetent fühle, könne er sie an einen Kompetenteren weitergeben. Volksentscheide wurden gefordert. Die derzeitige Landschaft der etablierten Parteien sei ein Einheitsparteisystem, in dem die Opposition quasi nicht mehr existiert. Ein Bürger übermittelte seine Erfahrung, dass in seinem engeren Umfeld neun von zehn Menschen nicht zur Wahl gehen wollen. Zu dem Thema, das seit Wochen an erster Stelle rangiert in den öffentlichen Diskussionen, der „Flüchtlingskrise“, fiel lange kein Wort. Erst am Ende wagte ein Anwesender die vorsichtige Feststellung, dass die Flüchtlingskrise zu leicht genommen wird.

Die Landeszentrale für politische Bildung will nach der Wahl noch einmal an verschiedenen Orten in Sachsen-Anhalt Bürgerforen durchführen.

Was ist das, eine „flüssige Demokratie“?

https://de.wikipedia.org/wiki/Liquid_Democracy

Kritik am „maßlosen Bürger“

http://www.bpb.de/apuz/144099/verteidigung-der-demokratie?p=all

Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt

http://www.lpb.sachsen-anhalt.de/