13 Jahre alter Mord in Halle war rechte Straftat

von 10. Mai 2012

 Der Mord an Jörg D. am 29. Dezember 1999 in Halle (Saale) war eine rechtsmotivierte Straftat. Zu diesem Ergebnis kommt Sachsen-Anhalts Landesregierung. Justiz- und Innenministerium hatten neun Tötungsdelikte nachträglich auf eine mögliche politisch rechtsextreme Motivation der Täter untersucht worden. In drei Fällen wird empfohlen, sie nachträglich als rechtsmotiviert einzustufen. „In diesen drei Fällen sehen wir – neben dem eigentlichen unpolitischen Hauptmotiv – eine politisch rechte Tatmotivation als mitursächlich“, sagten Justizministerin Prof. Dr. Angela Kolb und Innenminister Holger Stahlknecht. Jörg D. sei demnach von den Angeklagten als behindert eingeschätzt und komme somit für Täter mit rechtsextremistischer Gesinnung grundsätzlich als Opfer in Betracht. „Nach Erkenntnissen des LKA trägt ein Angeklagter insgesamt ca. 250 Tätowierungen über den ganzen Körper verteilt. Darunter befinden sich auch ein Hakenkreuz auf der linken Schulter und der Schriftzug „HASS (geschrieben mit SS-Runen)“ auf den Fingern“, heißt es in einer Erklärung der Ministerien. „Zudem kann zumindest einem weiteren Angeklagten eine politisch rechte Gesinnung und möglicherweise sogar Fremdenfeindlichkeit unterstellt werden.“ Ebenfalls als rechtsmotiviert eingestuft wurde die Tötung von Matthias L. am 24. April 1993 in einer Diskothek in Obhausen. Der Täter und seine Mittäter gehörten nach eigenen Bekenntnissen der Skinheadszene beziehungsweise der Sympathisantenszene an. Die Tat sei zudem als gruppendynamische Racheaktion für eine in der Nacht vom 17. auf den 18. April 1993 erlittene „Schlappe“ bei einer körperlichen Auseinandersetzung mit anderen Diskothekenbesuchern erfolgt. „Trotz fehlender belastbarer Erkenntnisse zum möglichen politischen Umfeld des damaligen Tatortes und seiner üblichen Besucher wird aufgrund der Gesamtumstände der von 40 bis 50 Skinheads „im Stile eines Rollkommandos“ überfallmäßig begangenen Tatausführung eine Einstufung als politisch rechts motivierte Tat empfohlen“, heißt es.  In der Nacht vom 7. zum 8. Oktober 1999 kam Hans-Werner G. bei Löbejün ums Leben. In der Urteilsbegründung gebe es mehrere deutliche Anhaltspunkte dafür, „dass zumindest ein Angeklagter wesentliche Teilaspekte eines rechtsextremistischen Weltbilds und „Wertesystems“ verinnerlicht hatte, so dass zumindest in Ansätzen dieses vorhandene rechtsextremistische Gedankengut mitursächlich für die Tat selbst und insbesondere für die zutiefst menschenverachtende Skrupellosigkeit und Brutalität der Begehungsweise gewesen sein könnte. Zudem legen Feststellungen im Urteil zumindest nahe, dass ein weiterer Angeklagter in Bezug auf geistig behinderte Menschen eine vermutlich auf rechtsextremistischem Gedankengut fußende menschenverachtende Gesinnung hatte. Ferner deutet die Wahl des Opfers (behindert) auf eine politisch rechte Motivation hin. Eine Einstufung des Falls als politisch rechts motiviert wird deshalb empfohlen.“Auf Grundlage dieser Empfehlungen hat Innenminister Holger Stahlknecht veranlasst, die drei Fälle in der Statistik als politisch rechts motiviert erfassen zu lassen. Das Landeskriminalamt wird das Bundeskriminalamt entsprechend unterrichten. Um Differenzen in der Anzahl von Todesopfern rechtsmotivierter Gewalt in Deutschland zu vermeiden, sprach sich Stahlknecht dafür aus, auch weiterhin einheitliche Kriterien zu verwenden. Er sagte aber auch, dass die Diskussion zu den Erfassungskriterien fortgesetzt werden müsse. „Der Austausch von Erkenntnissen und Informationen von behördlichen und sogenannten nichtbehördlichen Einrichtungen wird kontinuierlich fortgeführt und, wenn nötig, intensiviert. So nähern wir uns bei der Einstufung von Sachverhalten nicht nur weiter an, sondern können auch diese Bewertungen und Betrachtungen in polizeiliche Lagebilder einfließen lassen und polizeiliche Entscheidungen auf eine noch breitere Grundlage stellen“, so der Innenminister Sachsen-Anhalts. Justizministerin Prof. Dr. Angela Kolb betonte, dass die jetzt vorgenommene Neueinschätzung keine Kritik an der seinerzeitigen Spruchpraxis der erkennenden Gerichte bedeute. Kolb: „Es handelt sich um eine Bewertung „aus der Nachschau vor dem Hintergrund einer durch die jüngste Entwicklung geschärften Bewertung.“ Die Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kritisiert die neue Prüfung der Landesregierung als lückenhaft. „Die Landesregierungen bezog die Opferberatungsprojekte im Land nicht in die Prüfung mit ein. Auch Angehörige wurden im Zuge der Neubewertung nicht gehört“, erklärt der innenpolitische Sprecher der Fraktion, Sebastian Striegel. Die tödliche Dimension rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt müsss vollständig erfasst werden. „Gestern vor 20 Jahren starb in Magdeburg der Punker Torsten Lamprecht – er war das erste offizielle Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt. Heute nannte die Landesregierung das Ergebnis ihrer Prüfung zur Statistik über Tote rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“, so Striegel. „Das Ergebnis bringt späte Anerkennung für drei Getötete. Sie wurden nun nachträglich in die offizielle Zählung für Todesopfer rechter Gewalt übernommen. Dieses überfällige Zeichen erkennen wir an und begrüßen es.“ Weiter führ er aus: „Für die Angehörigen und Freunde von sechs Getöteten, denen – trotz bekannter, anderer Fakten – die Anerkennung verweigert wird, bedeutet das Verhalten der Landesregierung aber neuen Schmerz. Den Toten wird Gerechtigkeit vorenthalten. Ihr Tod wird nicht als das benannt, was es war: Ein Akt von Barbarei, von Rassismus, Obdachlosenabwertung, Menschenfeindlichkeit! Das ist – angesichts der vielen und zum Teil seit Jahren bekannten Hinweise – bitter.“  „Es geht hier mitnichten um Probleme der Statistik, sie kann immer nur ein mehr oder minder grobes Abbild gesellschaftlicher Realitäten liefern, das zudem der sorgfältigen Interpretation bedarf“, erklärt die innenpolitische Sprecherin der Fraktion „Die Linke“ Gudrun Tiedge. Es gehe vor allem darum, den Opfern wenigstens das noch mögliche Maß an Gerechtigkeit und Achtung entgegenzubringen, das sollte das Mindeste sein, was der Rechtsstaat hier zu leisten vermöge. „Es geht aber eben auch darum, immer wieder deutlich zu machen, wie weit die Bedrohung von Demokratie und Menschlichkeit durch faschistische und rassistische Ideologien und Gewalttaten hier und heute gehen kann. Wenn die jetzt erfolgte nachträgliche Überprüfung wenigstens dazu führt, dass künftig noch sorgfältiger hingeschaut und analysiert wird, dass die latente Gefahr von rechts nicht ignoriert, sondern dass ihr offensiv begegnet wird, dann hat der öffentliche Druck auch in dieser Beziehung eine wichtige Wirkung erzielt. Gerade auf diesem Feld sollte sich die Landesregierung auch künftig in der Pflicht sehen.“  

     
PP