80 Prozent Geld für 100 Prozent Leistung

von 21. Oktober 2011

Die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Halle (Saale) schlagen Alarm. Grund sind Planungen der Stadtverwaltung, nur 80 Prozent der zugesagten Mittel auszuzahlen. „Es kann nicht sein, dass über ein ganzes Jahr von den Verbänden und Vereinen Leistungen in vollem Umfang erbracht werden und dann zwei Monate vor Jahresende plötzlich nur 80 Prozent der Mittel für das gesamte Jahr ausgezahlt werden sollen“, kritisiert Nicole Stelzer vom Kinder- und Jugendring Sachsen-Anhalt. Besonders pikant dabei: die so einzusparenden Mittel hat die Stadt gleich weiterverbraten. 350.000 Euro fließen in den Bereich der Hilfen zur Erziehung, also in die Betreuung verhaltensauffälliger Kinder in Pflegefamilien oder Heimen.

Die freien Träger selbst haben sich mit einem offenen Brief an die Stadtverwaltung gewendet. "Ein Großteil der Träger wird sich in Form einer Insolvenz oder einer Betriebs- bzw. Projektschließung aus dem Bereich der Stadt Halle (Saale) und ihrer Jugendhilfelandschaft zurückziehen", heißt es in dem Schreiben, das HalleForum.de vorliegt. "Das Betriebsrisiko ist in der derzeit praktizierten Form des Umgangs von Verwaltung, Politik und freien Trägern nicht mehr zu tragen. Der Teil der Träger die in dieser Stadt verbleiben wollen oder müssen, wird sich auf den Bereich der Pflichtleistungen wie Hilfen zur Erziehung konzentrieren. Dort ist mit einem deutlichen Aufwuchs der Fallzahlen zu rechnen da präventive Angebote fehlen." Zahlreiche Angebote für die Kinder-, Jugend- und Familienarbeit werde es ab sofort nicht mehr geben. Sprich: Jugendclubs und ähnliche Einrichtungen werden geschlossen. "Die Stadt Halle soll sich gründlich überlegen, was ihr die eigenen Kinder, Jugendlichen und Familien wert sind."

Die Träger fordern nun eine Bezahlung in Höhe der erbrachten und geplanten Leistungen im Jahr 2011, so wie es der Jugendhilfeausschuss beschlossen hatte. Außerdem wolle man ein Planungssicherheit für die Projektträger im Jahr 2012 insbesondere bei nicht bestehendem Haushalt, heißt es weiter.

Den offenen Brief finden Sie auf Seite 2:
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Sehr geehrte Damen und Herren,

mit großer Betroffenheit und Verunsicherung haben wir die Mitteilung von Herrn Kogge – Beigeordneter für Jugend, Schule, Soziales und kulturelle Bildung – im Jugendhilfeausschuss am 08.10.2011 zur Kenntnis genommen, in dem er aussagte, dass die in der Jugendhilfe tätigen Vereine und Verbände weiterhin nur 80% Abschlagszahlungen für die vereinbarten und seit Jahresbeginn erbrachten Leistungen bekommen werden. Er informierte darüber, dass die Freien Träger auch bis zum Jahresende nicht mit der durch den Jugendhilfeausschuss verabschiedeten Summe gefördert werden können. Zur Begründung verwies er auf den nicht bestätigten Haushalt der Stadt Halle (Saale) und der daraus resultierenden Ausgabebeschränkung seitens des Landesverwaltungsamts.

Über diese Meldung hinaus mussten wir weiterhin feststellen, dass am 18.10.2011 der Finanzausschuss der Stadt Halle (Saale) einer Vorlage zugestimmt hat, die vorsieht die nochnausstehenden 20% der Leistungen der Jugendhilfe in Höhe von 350.000 Euro zur Deckung der Mehrkosten im Bereich Hilfen zur Erziehung in diesem Jahr zu verwenden. Wir wenden uns mit diesem Brief an Sie um Ihnen die Situation aus Trägersicht zu erläutern und Ihnen die sich daraus ergebenden Konsequenzen aufzuzeigen.

Forderungen der freien Träger an Politik und Verwaltung
• Verhinderung der Umverteilung von 350.000 Euro aus den Haushaltsstellen 1.4750.718000 und 1.4750.718100 in den Bereich Hilfen zur Erziehung 1.4550.760000
• Verhinderung der Umverteilung von 100.000 Euro aus den Mitteln für Projekte nach dem Familienfördergesetz (1.4510.718000) in den Bereich Hilfen zur Erziehung 1.4550.760000
• Bezahlung der Freien Träger in Höhe der erbrachten und geplanten Leistungen im Jahr 2011 analog der Beschlüsse des Jugendhilfeausschuss
• Planungssicherheit für die Projektträger im Jahr 2012 insbesondere bei nicht bestehendem Haushalt der Stadt Halle (Saale)
• Aufrechterhalten einer Kommunikation auf Augenhöhe bezüglich der inhaltlichen und finanziellen Jugendhilfeplanung zwischen Jugendhilfe, Politik und Verwaltung auch in besonderen Situationen

Die Situation aus Sicht der Träger:
2008 – 2010
Durch die angespannte Haushaltslage werden die Fördermittelbescheide und die daraus resultierenden Abschlagszahlungen immer später im laufenden Jahr versandt. Die Träger und die Verwaltung haben sich auf diese Notlage eingestellt und Abschlagszahlungen zur Liquiditätssicherung eingeführt. Die Gesamtmittel für die Jahre wurden zu 100% nachgezahlt.

2010
Der Entwurf des Haushaltsplanes für das Jahr 2011 ist nicht in Sicht. Der Unterausschuss Jugendhilfeplanung beginnt im Oktober 2010 die Beratungen ohne Planungsvorgabe der zu erwartenden Mittel für das Jahr 2011. Im Dezember 2010 bringt der Unterausschuss die erarbeiteten Ergebnisse als Antrag in den Jugendhilfeausschuss in erster Lesung ein. Die Verwaltung ist bis dato handlungsunfähig, da es keinen Haushaltsentwurf gibt.

2011
In den Jugendhilfeausschusssitzungen am Jahresanfang werden die Prioritäten für die Förderung der Träger der Kinder- und Jugendarbeit diskutiert und als Vorratsbeschluss für den erwarteten Haushalt eingebracht. In diesem Beschluss wurde festgestellt, welche Aufgaben bei welchem Träger gefördert werden müssen.
Im Februar werden die ersten monatlichen Abschlagszahlungen zur Liquiditätssicherung in Höhe von 80% der im Vorratsbeschluss diskutierten Mittel an die Träger ausgezahlt. Aus den Erfahrungen der vorhergehenden Jahre gehen die Träger von einer 100%igen Zahlung im Laufe das Jahres aus und halten alle Leistungen in vollem Umfang vor. Nach dem Haushaltsbeschluss durch den Stadtrat konnte im Mai 2011 dieser Vorratsbeschluss in einen regulären Beschluss durch den Jugendhilfeausschuss umgewandelt werden. Die im Stadtrat gefällten Beschlüsse signalisieren den in der präventiven Jugendarbeit tätigen Projekten eine hohe Wertschätzung, da eine Kürzung in diesem Bereich nicht vorgesehen ist. Da die ersten Planungen eine geringere Summe als der tatsächliche Haushaltsansatzes vorsahen, sind zum 01.09.2011 weitere Projekte durch den Jugendhilfeausschuss im Rahmen des vorgesehenen Haushaltsansatz bewilligt worden. Die Träger sind dazu im Juni 2011 aufgefordert worden, neue Konzepte und Projekte im Sinne der aktuellen Jugendhilfeplanung zu erbringen. Diese sollten vollumfänglich gefördert werden, von einer 80%igen Leistungserbringung und Bezahlung war nie die Rede. Alle Nachfragen bezüglich der 100%igen Auszahlung der Mittel wurden mit Verweis auf den noch nicht genehmigten Haushalt zurückgestellt. Die Träger gingen davon aus, dass wie in den Jahren zuvor, mit einer 100%igen Zahlung laut Beschlusslage bis zum Jahresende zu rechnen ist. Im Oktober 2011 kommt erst auf wiederholte Nachfrage im Jugendhilfeausschuss die klare Aussage, dass sie die restlichen 20% der Mittel nicht mehr erhalten werden. Es wurde auf das Risiko der Träger aufgrund der Haushaltslage verwiesen.
In einem Beschluss des Finanzausschuss vom 18.10.2011 wird vorgeschlagen, die nicht ausgezahlten Mittel in Höhe von 350.000 Euro zur Deckung der Mehrkosten im Bereich Hilfen zur Erziehung in diesem Jahr zu verwenden. Darüber hinaus wird vorgeschlagen, dass Projekte aus dem Bereich Familienförderung auf 100.000 Euro verzichten müssen.

Konsequenzen aufgrund der derzeitigen Situation
Die Träger waren sich wie in den letzten Jahren des Risikos einer Minderauszahlung bewusst. Alle politischen Signale, wie Haushaltsdiskussion, Nachbewilligung weiterer Projekte für das 2. Halbjahr, haben die Träger als klares Zeichen der besonderen Bedeutung der Kinder- und Jugendarbeit in unserer Stadt wahrgenommen. Diese herausragende Bedeutung der Kinder- und Jugendarbeit lässt sich zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr erkennen. Planungsunsicherheit, Ängste vor Insolvenz insbesondere bei ehrenamtlichen Vorständen, Verunsicherung der Fachkräfte und der Klientel ist der Sachstand zum heutigen Tag. Bei der Nichtauszahlung handelt es sich um ca. 350.000 Euro der bereits beschlossenen und durch die Träger eingeplanten und zum großen Teil verausgabten Mittel. Dieser Fakt trifft die etwa 50 betroffenen Träger bzw. Projekte hart, da sie bis zum heutigen Tag die in der Jugendhilfe geplanten Leistungen vollumfänglich erbringen. Eine Nachsteuerung in den letzten 2 Monaten ist arbeitsrechtlich nicht möglich, zumal unklar ist, auf welchen Zeitraum sich die Abschlagszahlungen beziehen. Sind die Zahlungen als Anteil auf das Jahr gesehen, müssten die Träger mit sofortiger Wirkung alle Aktivitäten einstellen. Sind die Zahlungen monats- oder quartalsweise angelegt, können die Defizite nicht mehr aufgefangen werden. Dies betrifft auch die zum 01.09.2011 neu konzipierten und bewilligten Projekte. Zum heutigen Zeitpunkt gehen wir davon aus, dass sich die Trägerlandschaft in Halle gravierend verändern wird. Etablierte langjährige Erfahrungen und Kooperationen werden nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Projektschließungen, Trägerinsolvenzen und abwanderndes Fachpersonal sind die Konsequenzen. Die langfristige Jugendhilfeplanung mit Neuausrichtung auf Leistungsbeschreibungen etc. wird so nicht umzusetzen sein. Kindern, Jugendlichen und Familien werden die Anlaufstellen fehlen, Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen sowie Familienzentren schließen und Angebote der Familienbildung nicht mehr stattfinden.

Ausblick bei 100%iger Bezahlung der Leistungen in diesem Jahr
Selbst wenn es in diesem Jahr noch die 100%ige Mittelfreigabe geben sollte, wurde mit der Mitteilung seitens der Verwaltung ein Vertrauensbruch in der Zusammenarbeit mit den Trägern der Stadt Halle in Kauf genommen. Der bisher respektvolle Umgang zwischen Politik, Verwaltung und Freien Trägern hat einen Riss bekommen, welcher zu Vorwürfen an die jeweils Anderen führt. Der Spirale des Misstrauens und der daraus resultierenden Missachtung der Profession des Anderen wird nur mit viel Mühe zu begegnen sein.
Da auch im Jahr 2012 nicht rechtzeitig mit einem genehmigten Haushalt zu rechnen ist, werden die Träger nur noch Leistungen in Höhe der erfolgten Abschlagszahlungen erbringen. Etablierte Fachkräfte können in den Projekten nur bedingt gehalten bzw. gewonnen werden. Neue zu finden wird fast unmöglich.

Ausblick bei 80%iger Bezahlung der Leistungen in diesem Jahr
Ein Großteil der Träger wird sich in Form einer Insolvenz oder einer Betriebs- bzw. Projektschließung aus dem Bereich der Stadt Halle (Saale) und ihrer Jugendhilfelandschaft zurückziehen. Das Betriebsrisiko ist in der derzeit praktizierten Form des Umgangs von Verwaltung, Politik und freien Trägern nicht mehr zu tragen. Der Teil der Träger die in dieser Stadt verbleiben wollen oder müssen, wird sich auf den Bereich der Pflichtleistungen wie Hilfen zur Erziehung konzentrieren. Dort ist mit einem deutlichen Aufwuchs der Fallzahlen zu rechnen da präventive Angebote fehlen. Die Jugendhilfeplanung für das Jahr 2012, die sowohl die freien Träger als auch Verwaltung und Politik in Form der Umstrukturierung auf Leistungsbeschreibungen viel Arbeitszeit in diesem Jahr gekostet hat, ist damit hinfällig. Es wird schwer sein, etablierte Leistungserbringer für die präventive Arbeit zu motivieren. Ob diese Lücke mit neuen Anbietern nach den Erfahrungen in diesem Jahr gefüllt werden kann, stellen wir in Zweifel.
Definitiv können ab sofort zahlreiche Angebote für die Kinder-, Jugend- und Familienarbeit nicht mehr vorgehalten werden. Die Stadt Halle soll sich gründlich überlegen, was ihr die eigenen Kinder, Jugendlichen und Familien wert sind. Kinder und Jugendliche brauchen Erfahrungsräume und Bezugspersonen. Diese sind nur durch verlässliche Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit vor Ort vorstellbar. Fallen diese weg, eröffnet dies Nischen für Gruppen mit Angeboten, welche die Ungleichheit der Menschen und die Schwächung der Demokratie in den Vordergrund stellen. Das Bedürfnis der Kinder und Jugendlichen nach Räumen und Angeboten bleibt unverändert bestehen, auch wenn Maßnahmen und Angebote der Kinder-, Jugend- und Familienarbeit reduziert werden. Insbesondere in Zeiten des demografischen Wandels ist die Rolle von Kinder-, Jugend- und Familienarbeit von besonderer Wichtigkeit. Dort wo Familien, Kinder und Jugendliche mit der Arbeits- und Perspektivlosigkeit konfrontiert sind, fällt es schwer, eigene Lebenswege, Eigenmotivation und Zukunftsvorstellungen zu entwickeln. Gerade hier setzt die Kinder-, Jugend- und Familienarbeit In unserer Stadt an.