Baukultur-Dialog: „Städte für Menschen“

von 10. Juli 2015

Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, führte in das Thema ein: Das Verhältnis von Infrastruktur und öffentlichem Raum ist in den Fokus gerückt. In Deutschland müssen 10.000 Brücken ersetzt werden. Dafür werden 16 Milliarden Euro benötigt. Heute geht es zunehmend darum, „Städte für Menschen“ zu bauen.

Lage der Hochstraße gut gewählt

Halles Stadtplanungschef Uwe Stäglin erinnerte an die bereits zahlreichen Veranstaltungen zum Thema Hochstraße. 2010/2011 hat die Stadtverwaltung den Auftrag bekommen, den VEP zu überarbeiten. Eine Bestandsaufnahme zeigte: 25 Verkehrsbeziehungen und fast die Hälfte aller Verkehre laufen über die Hochstraße. Es handelt sich um eine Hauptverkehrsader, die „essentiell“ ist für Halles Straßennetz. „Die Lage ist schon gut gewählt“, beschrieb Stäglin die Bedeutung der Hochstraße. Die Stadt hat trotzdem insgesamt neun theoretisch denkbare Saale-Übergänge geprüft; fünf scheiterten am Naturschutz, weitere Varianten entfielen als ungeeignet, darunter die Nutzung der Elisabethbrücke über die Mansfelder Straße. „Zwei Trassen stehen noch zur Diskussion.“ Die Arbeitskreisphase ist abgeschlossen. Bis Mitte August noch können sich interessierte Bürger die Ergebnisse im Internet unter www.gestalte-mit-halle.de ansehen und ihre Anregungen dazu einbringen. Ziel ist es, so Stäglin, bis Ende 2015 Ergebnisse vorzulegen.

Verkehrsplaner Hartmut Topp zeigte im Hauptreferat des Dialogs auf einer Karte innerstädtische Hochstraßen in Deutschland. Die einzige innerstädtische Hochstraße in der DDR war die in Halle. Im Altbundesgebiet standen Innenstadt-Hochstraßen in Bremen, Hannover, Bielefeld, Düsseldorf, Siegen, Mainz, Wetzlar und Ludwigshafen. Hochstraßen lösten in den 50er und 60er Jahren Begeisterung aus. Doch vor 30 Jahren begannen die US-Amerikaner in Portland (Bundesstaat Oregon) damit, die erste Hochstraße wieder abzureßen. Die Autostadt Portland wurde zur „Stadt für Fußgänger und Radfahrer“. Nachdem bei einem Erdbeben in San Francisco Teile einer Hochstraße einstürzten, setze ein Umdenken ein und die zerstörten Autobrücken wurden nicht erneuert. Deutsche Städte diskutieren die einst so populären Verkehrsbauwerke inzwischen auch kontrovers. Im Ergebnis wurden mehrere Hochstraßen bereits abgerissen. Sogar der „Tausendfüßler“ in Düsseldorf, obwohl der unter Denkmalschutz stand. Topp erinnert sich: „Das war ein Bauwerk von ganz besonderer Eleganz.“ Der Experte fand: Man kann auch ebenerdig große Verkehre abwickeln, wenn genügend Platz in der Breite ist. Das ist auch in Halle gegeben. So befindet sich die Hochstraßentrasse am Franckeplatz Topps Schätzungen zufolge in einer 65 Meter breiten Häuserschlucht. Dem widersprachen die Baufachleute Reiner Halle und Wolfgang Heinrich von der Bürgerverein Stadtgestaltung Halle lautstark. Aus dem Publikum heraus riefen sie: „Weniger!“

„Bis zu 30 Prozent des Verkehrs verschwinden“

Auf Hochstraßen zu verzichten, so Topp, ist nicht nur eine städtebauliche Entscheidung, sondern auch eine ökonomische. Außerdem nannte er eine beeindruckende Zahl: „Je nach Situation verschwinden bis zu 30 Prozent des Verkehrs.“ Wie das möglich ist? Untersuchungen dazu ergaben, dass sich die Verkehre räumlich und zeitlich verteilen. Als Beispiel für revolutionäre Veränderungen in der Verkehrsplanung weltweit zeigte er Bilder von Seoul, der Hauptstadt Südkoreas. Zu sehen war der in den Jahren 2003 bis 2005 freigelegte Cheonggyecheon-Fluss, der von Grün und breiten Straßen umrahmt war. Vor dem Umbau war der Fluss mehr als 30 Jahre lang von einer Stadtautobahn überbaut. Für die Hochstraße in Halle formulierte Topp einige Fragen: Was bedeutet das Bauwerk als Zeitzeuge? Ist es intakt oder marode? Was kostet der Erhalt? Er schlug vor, sich einmal den Entwurf einer Hochleistungsstraße anzusehen, welche die Hochstraße ersetzen könnte.

Architekt Frank Pflüger thematisierte die Integration von Straßen in die Stadt. Wie sein Vorredner nannte er als Paradebeispiel einer gelungenen Integration die Champs-Élysées, also jene 1900 Meter lange und 70 Meter breite Prachtstraße, die im Zentrum der Hauptstadt Frankreichs liegt. Halle und Paris sind nicht vergleichbar, meldete sich die Vertreter des BV Stadtgestaltung mit einer erneuten Intervention zurück. Hochstraße sind Zäsuren, sie trennen, erklärte Pflüger weiter und fragte mit Blick auf Halle, ob es Alternativen im Straßennetz gibt und ob ein ebenerdiger „Boulevard“ möglich wäre.

Hochstraße in Halle ist ein „Standardbauwerk“

Brückenbauingenieur Ludolf Korntal nannte Halles Hochstraße ein „Standardbauwerk“ aus Spannbeton. In Halles schöner Altstadt stellen die zwei langen Brücken eine gewisse Barriere dar, fand er. Zum Zeitpunkt der Errichtung war es ein gutes Bauwerk, doch ist es nicht vergleichbar mit dem „Tausendfüßler“ in Düsseldorf.

Bauprofessor Steffen Marx, der Halle schon aus seiner Studienzeit an der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) kennt, erklärte, dass die Hochstraße in Halle auf den ersten Blick nicht bestandsgefährdet ist, man aber genauer hinschauen muss. Marx schilderte seine Ankunft in Hannover als Schock. Wegen der Hochstraße! Den VEP-Beteiligungsprozess in Halle bezeichnete er als vorbildlich.

Architekt Volkwin Marg offenbarte sich mit Blick auf seine berufliche Vergangenheit als „Architekt der Autostadt“ der 60er Jahre, der den Umgang mit dem Auto heute anders sieht. Er erwähnte den Bewerbungsslogan der Franckeschen Stiftungen zu Halle um den UNESCO-Weltkulturerbe-Titel („Wer, wenn nicht wir“) und erklärte dazu: „Alle Prozesse beginnen damit, dass man etwas will.“ Wenn jetzt im Zusammenhang mit der Bewerbung über die Hochstraße neu nachgedacht wird und dabei auch von Abriss die Rede ist, dann ist das eine „Selbstverpflichtung“. „Alle Städte stehen in Konkurrenz zueinander.“ Die Frage ist: Mit welchem Profil kann Halle wachsen? Halle ist eine Stadt der Bildung und Forschung mit einer einmaligen Tradition. Die Bewerbung, so Marg, sollte nicht mit Streit um die Hochstraße belastet werden. „Womit man sich bewirbt: Das ist eine Perspektive. Es geht nicht darum, was Halle ist, sondern in Zukunft sein will.“ Gut in Halle findet er die Diskussion von Pro und Contra, doch „das A und O ist der bürgerschaftliche Konsens“. Marg kann die Darstellung der BV Stadtgestaltung verstehen, „aber die Perspektive hat sich geändert“. Der Bau der Hochstraße ist 50 Jahre her. Dazwischen liegt ein Zeitenwandel. Es gibt neue Mobilitätsmodelle.

Verkehrsplaner Konrad Rothfuchs bemerkte: Man muss mit Bildern arbeiten, damit die Leute wissen, worum es geht. Eine 800 bis 1000 Meter lange Brücke beeinflusst eine Stadt ganz anders als ein Gebäude. In 30 bis 50 Jahren, wahrscheinlich eher, gibt es andere Mobilitätssysteme, zum Beispiel automatisierte Verkehre.

„Für die Zukunft ist die Hochstraße wichtig“

Dann kam das angesichts der Hitze nicht so zahlreiche Publikum zu Wort. Bauingenieur Reiner Halle schilderte seine Erfahrungen und Sichtweisen. Er war zu DDR-Zeiten an der kompletten Neugestaltung des Thälmann-Platzes (heute: Riebeckplatz) beteiligt und erinnerte sich daran, wie er nach dem Studium in Dresden nach Halle kam und Zeuge eines Verkehrsinfarkts wurde: „1961 ging nichts mehr in Halle.“ Damals entstand der Generalplan für eine modernes Verkehrsnetz. Dabei waren auch fünf Straßenbrücken über die Saale vorgesehen. „Als hallescher Bürger bin ich froh, dass es nicht dazu gekommen ist.“ Leute vom Fach redeten den SED-Parteifunktionären die Fünf-Brücken-Variante aus. Auch die damals diskutierte Idee, die Straßenverbindung nach Halle-Neustadt über eine Rampe auf den Knoten 46 (Glauchaer Platz) herunter zu führen, wurde mit Blick auf das Auf und Ab der Strecke zwischen Saale und Waisenhaus-Apotheke verworfen. „Meine Urenkel werden die Hochstraße noch sehen, weil es anders nicht geht. Halle wäre nicht lebensfähig.“ Eine Zuhörerin meldete sich ebenfalls zu Wort und warf ein, dass es in Zukunft eine andere Mobilität gibt. „Wir müssen auch an die Zukunft denken.“ Ex-Baudezernent Wolfgang Heinrich betonte hingegen: „Für die Zukunft ist die Hochstraße wichtig. Warum soll man was abreißen, was funktioniert?!“ Er erinnerte an seinen bis heute nicht verwirklichten Vorschlag an Halles Stadtverwaltung, eine der beiden Hochstraßenbrücken probeweise für eine Woche zu sperren; gewissermaßen als Reaktion auf einen Vorstoß der Hochstraßen-Gegner, zunächst die Südbrücke abzureißen. Zugleich widersprach Heinrich Versuchen, mit Verweis auf „Betonkrebs“ das Bauwerk kaputt zu reden. „Es gibt keinen Betonkrebs.“ Es handelt sich statt dessen um Bauschäden, die sich ergeben, wenn Zuschlagsstoffe nicht an unabhängiger Stelle eingehend chemisch untersucht werden. Udo Schumann, Physiker und Verfahrenstechniker, erinnerte an die besondere Bedeutung der Hochstraße während des extremen Saale-Hochwassers im Juni 2013, als der komplette Glauchaer Platz unter Wasser stand, Altstadt und Neustadt ohne diesen Hochbau also voneinander abgeschnitten gewesen wäre. Bei der Bewertung der Hochstraße muss man auch sehen, dass alle anderen denkbaren Saaleübergänge heute in Schutzgebieten lägen.

„Verkehr ist eine Frage des Angebots“

„Verkehr ist auch immer eine Frage des Angebots“, plädierte Marx dafür, „ohne Druck in die Zukunft zu denken“. Topp gab zu bedenken, dass noch 15 bis 20 Jahre bis zu einer Lösung vergehen, selbst wenn heute der Abriss beschlossen wird. Alle Zahlen, die zur Hochstraße vorliegen, sind ein Blick zurück, bestenfalls ein Blick in die Gegenwart, jedoch kein Blick in die Zukunft. Stäglin reagierte auf die Frage nach dem Denkmalschutz für die Hochstraße: „Eine Ad-Hoc-Unterschutzstellung würde nicht helfen.“ Das gilt auch für Halle-Neustadt, ergänzte der Planungsdezernent. Halles Gestaltungsbeirat hatte im Herbst des Jubiläumsjahres (1964-2014) angeregt, die DDR-Neubaustadt unter Denkmalschutz zu stellen.

Seite der Bundesstiftung Baukultur

http://www.bundesstiftung-baukultur.de

Seite des Bürgervereins Stadtgestaltung Halle

http://www.stadtgestaltunghalle.jimdo.com