Bildungsdiskussion nach der Koalitionsvereinbarung

von 18. April 2011

Im Koalitionsvertrag haben CDU und SPD den Weg für "längeres gemeinsames Lernen" in Sachsen-Anhalt geebnet. Das kann eine Abkehr vom bisherigen Modell der strikten Trennung von Bildungschancen und -biographien nach der vierten Klasse bedeuten. Wie aber lässt sich dies konkret umsetzen? Und wie in Halle, wo bislang nur zwei Schulen existieren, die nicht nach der vierten Klasse separieren?
Der SPD-Ortsverein Halle-Neustadt hatte hierzu am vergangenen Donnerstag zu einer Podiumsdiskussion geladen. Anwesend waren neben den Vertretern der beiden nach dem Integrierten Gesamtschulmodell arbeitenden Schulen (IGS Halle und Saaleschule) auch Vertreter von Eltern, des Kultusministeriums sowie der zuständige Beigeordnete der Stadt Halle, Tobias Kogge.

Längeres gemeinsames Lernen – dies wird nach gegenwärtiger Struktur der Schulen in Land und Stadt bislang nur in den wenigen Schulen, die der Form der integrierten Gesamtschule folgen, möglich gemacht. Zwar wurde die „Laufbahnempfehlung“ abgeschafft, nach der Grundschullehrer nach der vierten Klasse über die Kinder urteilen, ob sie zum Gymnasium zugelassen werden oder nicht. Doch die Alternative, dass nun Eltern zu eben genau diesem Zeitpunkt über den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder verbindlich entscheiden, gilt als umstritten.

Wird das Land als Folge der Koalitionsvereinbarung flächendeckend Gemeinschaftsschulen einrichten? „Nein“, sagt Torsten Klieme (SPD), Referent im Kultusministerium Sachsen-Anhalt. „Gemeinschaftsschulen sind nach Koalitionsvertrag als Angebot an Eltern und Schulträger zu verstehen. Dies müsse örtlich organisiert werden. „Mit Staatsbeglückung von oben werden wir nicht weiterkommen“, so Klieme. Die Einführung der neuen Bildungswege müsse wohlbedacht organisiert werden, man wolle keine Experimente übers Knie brechen. Die Wege seien vielfältig – es ginge vor allem darum, dass sich bestehende Schulen auf freiwilliger Basis zu Gemeinschaftsschulen formieren.

Für Tobias Kogge (CDU) ist die Gemeinschaftsschule keine Frage bildungspolitischer Dogmen, sondern eine Frage von Rationalität. „Da liegen wir nicht weit auseinander“, so der CDU-Politiker auf der SPD-Veranstaltung. Man müsse „die Tür öffnen für andere Möglichkeiten“. Er verweist auf die Pisa-Studie, nach der in kaum einem anderen Land der Bildungsabschluss der Kinder derart vom sozialen Status der Eltern abhängig sei. "Mit unserem strikt dreigliedrigen Schulsystem erreichen wir nach der PISA-Studie etwa den Rang von Mexiko." Mehr als 52 Prozent der halleschen Schüler gehen auf ein Gymnasium. Kogge ist nicht sicher, ob der Wunsch der Eltern wirklich mit dem Leistungsvermögen der Kinder übereinstimme. Das Problem seelischer Überforderung von Schulkindern habe so ausgerechnet in Kröllwitz einen massiven Schwerpunkt. Der Bestellwunsch der Eltern führe leider oft zum Schulversagen der Kinder. Die Abbrecherquote ist hoch: Ca. 30 Prozent der Kinder verlassen das Gymnasium ohne Abitur.

Für Kogge ist jedoch klar: Die Gesamtschule könne nicht verordnet werden, Lehrer, Schüler und Eltern müssen das „Geschenk auch annehmen wollen“. Für den Schuldezernenten sind es vor allem aber auch ganz pragmatische Gründe, die für Gemeinschaftsschulen sprechen. Der demografische Wandel zwingt die Stadt auf Dauer, Schulen zusammen zu legen. Konkret kann Kogge sich – schon aufgrund der räumlichen Lage – die Schulen der Kastanienallee als potentielle Kandidaten für die Bildung einer Gemeinschaftsschule vorstellen.

Dass die Gemeinschaftsschule auch vom Geist ihres Lehrkörpers lebt, zeigte die anschließende, recht unterschiedliche Präsentation der beiden halleschen Gesamtschulen. Wolfgang Paschkovski, stellvertretender Direktor der IGS Halle, hob vor allem die großen organisatorischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung staatlicher Vorschriften als Hemmkörper für die Schulpraxis her. So sei eine Gesamtschule verpflichtet, über die Hälfte der Kinder in die Abiturlaufbahn zu bringen. Doch „ leider“ werden etliche Schüler, die das Zeug zur Gymnasiallaufbahn haben, von der Wirtschaft vorher „abgefangen“: ein Erfolg eigentlich, der aber den Bestand der Schule gefährde.

Der Physiker und Mathematiklehrer Dietrich Strech war lange Zeit Schuldirektor im Halleschen TMG, bis ihm familiäre Gründe mit der Geburt eines behinderten Enkels den Anstoß zu einer pädagogischen Wende nach seiner Pensionierung gaben. "Es gibt im Leben eben mehr als nur Physik.". Gemeinsam mit anderen Eltern gründete er die Saaleschule, eine private Schule in Halle, die dem Konzept der IGS folgt, zudem aber auch reformpädagogische Ansätze integriert hat. Strech war mehrfach in Finnland, von dem dortigen Bildungssystem könne man sich viel abschauen – wobei wiederum eigentlich die Finnen sich das Schulsystem in den 70er Jahren von der DDR kopiert hätten, sagte Strech. Man habe es lediglich vom ideologischen Ballast befreit. Strech möchte, dass Kinder begeistert zur Schule gehen. Die Bemerkung eines älteren Herrn aus dem Publikum überhörte der Pädagoge allerdings: „Wenn das so ist, muss man sich aber wirklich ernsthaft Sorgen um die Kinder machen."