Bürgerumfrage: Studentengruppe fordert Stopp

von 22. Oktober 2009

Ist die aktuelle Bürgerumfrage von Stadtverwaltung und Martin-Luther-Universität rassistisch? Seit dem Wochenende gibt es darum Diskussionen. Bürgerbefragung 2009. Von den Verantwortlichen heißt es, die Umfrage sei wissenschaftlich und methodisch sauber. Nur einige Fragen seien unglücklich gestellt. Die Stadträte im Hauptausschuss waren da etwas deutlicher, sie wollen künftig vor Veröffentlichung derartiger Fragen bescheid wissen.

Der Arbeitskreis Kritische Studenten der Uni Halle hat sich nun erneut zu Wort gemeldet und seine Forderung nach dem Stopp der Befragung bekräftigt. Auf Seite 2 finden Sie die komplette Kritik des Arbeitskreises.

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Zur inhaltlichen Kritik
Die Fragestellung (14), die eine Auflistung von „Dinge[n]“ ankündigt, welche potentiell ein Problem im Wohnviertel der Befragten darstellen könnten, bietet die Abstimmungsmöglichkeit von „großes Problem“, über „ziemliches Problem“ und „teils, teils“ zu „geringes“ und „kein Problem“. Es folgen insgesamt 15 Punkte, von denen sich sechs auf Dreck und Verschmutzung beziehen (Hundekot, Schmutz und Müll, heruntergekommene Häuser, fehlende o. mangelhafte Infrastruktur), sowie weitere sechs auf unsoziales Verhalten (aggressive Autofahrer, Vandalismus, Gewalt, Kriminalität). Es handelt sich hierbei um eine Liste, die ausschließlich (extrem) negativ konnotierte Zustände und Verhaltensweisen aufzählt, welche „kein Problem“ im Sinne der vorzunehmenden Wertung nur bei ihrem Nichtvorhandensein darstellen, jedoch „ein großes Problem“ bei ihrer Häufung. In dieser Liste finden sich nun ebenfalls die Personengruppen Betrunkene/Alkoholiker, „Drogenabhängige“ und „Ausländer“. Explizit wird also die bloße Anwesenheit von Personen, die diesen Gruppen zuzurechnen sind, als Negativfaktor beschrieben, der die Qualität des Lebens in Halle bzw. grundsätzlich mindert. Von Suggestion zu sprechen, scheint hier fast untertrieben. In einer anderen Frage (48) wird in einem ähnlichen Kontext der „Zuzug von Ausländern“ als grundsätzlich bedrohlich bzw. als Negativfaktor aufgeführt. Die Einordnung der Gruppen in den Fragekontext und ihre damit verbundene Herabwertung reproduzieren sozialdarwinistische und rassistische Ressentiments. Schon 2003 wurde diese Frage gestellt, wobei „Drogenabhängige“, nicht aber „Ausländer“ in dieser Liste aufgeführt wurden, ohne dass es im Nachhinein zu Kritik oder Selbstkritik führte.

Zur methodischen Kritik
Auf unsere Kritik ist die Auftraggeberin der Umfrage, die Stadt Halle, ebenso wenig eingegangen wie das Wissenschaftlerteam, welches diese durchführt. Die Stadt verlautbarte, aus ihrer Sicht bestünde „kein Zweifel am wissenschaftlichen Wert“, der CDUPolitiker Hildebrand will gar einen namenlosen „Experten“ um Rat gefragt haben, der ihm bestätigt habe, es sei „sogar hin und wieder üblich, dass provozierende [!] Fragestellungen bei dieser Art von Bürgerbefragungen vorkommen, um eine wahrhafte Bürgermeinung widerspiegeln zu können“. Ob ihm dieser „Experte“ auch den Unsinn eingeflüstert hat, wonach offensive Kritik „eine Art argumentativer Vernichtung“ [!] ist, bleibt offen. Prof. Sackmann vom Institut für Soziologie der hallischen Universität, der Leiter der Studie ist, verkündete in der MZ schließlich die banale Tatsache, dass Fragen nach Ressentiments selbstverständlich gerechtfertigt sind und es nicht sinnvoll ist, in sozialwissenschaftlichen Studien „solche Fragen nach den Regeln von Political Correctness zu stellen“. Angesichts solcher Ignoranz gegenüber unserem Hinweis auf Semantik und Kontextualisierung, auf die höchst suggestive Fragestellung, die zur Erfassung vermeintlicher Ressentiments erstrecht nicht geeignet ist und die eben der „academical“ bzw. „scientific correctness“ nicht entspricht, hier nochmals einige gut gemeinte Hinweise mit Literaturtips zu relevanter Einführungslektüre. Die absolute Grundlage empirischer Sozialforschung bzw. genauer quantitativer Erhebungen sind die wissenschaftlich korrekte Erarbeitung, Durchführung und Auswertung einer Befragung. Bereits die simplen „Faustregeln“ zur Fragebogenkonstruktion bzw. Frageformulierung sind jedoch offensichtlich bei der „Bürgerumfrage 2009“ ignoriert worden, ebenso wie – will man nicht an die Niveaulosigkeit und Unwissenschaftlichkeit aller beteiligten Professoren und Mitarbeiter glauben – der Grundsatz des Testing, der die Identifikation von entwurfsbedingten Qualitätsgefährdungen mit dem Ziel der Frageverbesserung bezwecken soll (Faulbaum et al. 2009, 93ff.). Eine theoretisch internalisierte und automatisierte, praktisch wenigstens verpflichtende permanente selbstkritische Reflexion des Forschungsprozesses scheint es weder gegeben zu haben noch – so kann man der bockigen Strategie der Vorwärtsverteidigung entnehmen – zu geben. Zurück zu den „Faustregeln“ (vgl. Schnell et al. 1999, 306f.): Die für uns wichtigsten lauten
a) Fragen sollen keine bestimmten Antworten provozieren (keine Suggestivformulierungen),
b) Fragen sollen neutral formuliert sein,
c) Fragen sollen sich nur auf einen Sachverhalt beziehen (keine Mehrdimensionalität)

Zu den Grundtypen von Formulierungsfehlern zählen „Verfälschungsformulierungen“, z.B. Suggestivformulierungen. In vielen Einführungswerken wird in den Abschnitten zu den Konstruktionskriterien darauf verwiesen, dass auch die Wirkung von vorhergehenden auf folgende Fragen oder Aussagekomplexe zu beachten sei (Halo-Effekt), erstrecht aber die Wirkung verschiedener Elemente einer Frage im Rahmen des Assoziations- und Reaktions bzw. Antwortprozesses des Befragten. Dies gelte es in der Konstruktion des Fragebogens und während der Auswertung zu berücksichtigen. Ein letzter aber ebenso zentraler Punkt ist die genaue Definition und präzise Verwendung von Begrifflichkeiten oder Kategorien. Frage 14 bietet uns nun ein Beispiel für die Missachtung aller genannten Faustregeln. Die Fragesemantik ordnet große Menschengruppen, nicht präzise bzw. gar nicht definiert, unter die Kategorie „Dinge“ und stellt sie in eine Reihe mit Verhaltensweisen und Dingen, die extrem negativ konnotiert sind. Dies beeinflusst den Assoziationsprozess des Befragten maßgeblich und ist höchst suggestiv. Die Einreihung in eine Gruppe von Faktoren, die nach allgemeinem Dafürhalten kein Problem darstellen, wenn sie nicht existieren, impliziert, dass es sich mit Ausländern, Alkoholikern und Drogenabhängigen ähnlich verhält, die antizipierte Lösung des „Problems“ ist also ihr Verschwinden aus dem jeweiligen Wohnbezirk. Eine möglichst objektive Erfassung von eventuellen ausländerfeindlichen Ressentiments, die laut den apologetischen Beschwichtigungsversuchen von Jaeck und Sackmann in der Presse nun plötzlich – und entgegen früheren Erklärungen – angebliches Ziel der Frage gewesen ist, ist so jedenfalls unmöglich. Die Negativwertung ist schon implizit, rassistische Ressentiments werden so nicht abgefragt, sondern (den 'Volkswillen' antizipierend?) reproduziert.

Und die Verteidigungsstrategie der Wissenschaftler wird sowieso gänzlich lachhaft, wenn Sackmann ganz nebenbei bemerkt, man werde bei künftigen Befragungen den Stimulus überarbeiten, „da der Einleitungssatz 'Stellen die folgenden Dinge in Ihrem Stadtviertel ein Problem oder kein Problem dar?' besser nur auf Gegenstände bezogen werden sollte und die Haltung zu Personengruppen gesondert abgefragt werden sollte“. Das ist die Crux, um die es uns geht, und die Implikationen der ursprünglichen Frageformulierung sind so nicht so einfach hintenrum vom Tisch zu wischen. Es ist absurd, dass in der Stellungnahme von Herr Sackmann zur Ehrenrettung „Allbus 2006, eine[] renommierte[] allgemeine[] Bevölkerungsumfrage“ herangezogen wird, da die dort verwendete Fragekonstruktion von der hiesigen grundverschieden ist, die Frage steht allein und ist vollkommen anders formuliert. Ein genaues Studium anderer Fragekataloge ist den Autoren und Autorinnen der Bürgerumfrage 2009 unbedingt anzuraten. Form und Inhalt der gesamten Umfrage zeugen von Dilettantismus bei ihrer Erarbeitung, jedoch würde uns das nicht im geringsten interessieren, wenn nicht Fragen wie Frage 14 weitreichende Implikationen hätten. Wir fordern eine Rücknahme der Befragung und eine gründliche und kritische Überarbeitung der Frageformulierungen sowie ein deutlich(er)es Eingeständnis des von uns kritisierten wissenschaftlichen Versagens in Teilen der Studie .