Diakonie sieht soziale Einheit in Gefahr

von 11. November 2010

Ein Jahr ist es her, dass die Diakonie Mitteldeutschland ihre erste Hallesche Erklärung unterzeichnet hat. Darin wendeten sich die Mitgliedsorganisationen gegen den Sozialabbau. Am Donnerstag kamen rund 150 der 276 Mitglieder aus Thüringen und Sachsen-Anhalt im Maritim-Hotel in Halle (Saale) zu ihrer Mitgliederversammlung zusammen. Dabei wurde mit großer Mehrheit die “2. Hallesche Erklärung” zur Beseitigung von Armut und sozialer Ausgrenzung verabschiedet.

Diakonie-Vorstand Oberkirchenrat Eberhard Grüneberg erklärte, vor allem die beiden Großstädte Halle und Erfurt müsse man im Blick haben. So gelten in der Saalestadt ein Drittel aller Kinder als arm, ist auf Sozialgeld angewiesen. Damit habe Halle eine negative Spitzenposition inne, sei “Metropole der Armutsspitzen”, so Diakonie-Sprecher Frieder Weigmann. Grund dafür sei das Wegbrechen von Industriestrukturen nach der Wende. Dadurch fehlen gut bezahlte Arbeitsplätze. Kritik wurde an der Hartz IV-Reform geübt. Die Bildungsgutscheine für Kinder seien gerade in ländlichen Gebieten Makulatur, weil es dort an Angeboten fehle, die überhaupt in Anspruch genommen werden könnten, so Grünberg. Schädlich sei auch die Tatsache, dass die Förderung zur Arbeit gekürzt wird. “Bei allen guten Prognosen verfestigen sich Armutsrisiken und prekäre Lebenslagen für 20 Prozent der Bevölkerung in unserer Region“, meint Grünberg. Er forderte den freien Zugang zu Bildungs- und Sozialangeboten für alle Kinder, unabhängig von der Finanzlage der Eltern. Andernfalls sei die soziale Einheit in Gefahr.

Die komplette Erklärung lesen Sie auf Seite 2:
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2. Hallesche Erklärung der Diakonie Mitteldeutschland Im Europäischen Jahr 2010 zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung

Auf dem Gebiet der Diakonie Mitteldeutschland gelten mehr als 20 Prozent der Bevölkerung als arm oder akut von Armut bedroht. In einigen Städten und Regionen ist inzwischen jedes dritte Kind auf Sozialgeld angewiesen. Hinter diesen Zahlen stehen bedrückende Lebenslagen vieler Menschen. Die Europäische Union hat das Jahr 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung erklärt.

Armut fordert die Diakonie in besonderer Weise zur Parteinahme heraus. Die biblische Botschaft der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gilt unabhängig von moralischen oder nach Ursache und Schuld fragenden Unterschieden. In den mehr als 1.400 Einrichtungen und Diensten praktischer Nächstenliebe in Sachsen-Anhalt und Thüringen und in Teilen Brandenburgs und Sachsens leistet die Diakonie Mitteldeutschland durch die eigene Arbeit Armutsprävention und -linderung. Zugleich fordern wir Politik und Gesellschaft auf, Armut und soziale Ausgrenzung zu beseitigen und gemeinsam den Sozialstaat zukunftssicher zu machen.

In den vergangenen zwei Jahren wurden Milliardensummen aufgebracht, um Wirtschafts- und Finanzunternehmen zu retten. In unserer Gesellschaft ist aber auch der soziale Zusammenhalt bedroht. Sozialleistungen werden von Vielen, die selbst Arbeit und Auskommen haben, als Luxus und nicht als Notwendigkeit betrachtet. Dabei fehlen Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, die ihnen Wege aus der Armut eröffnen, und die für ihre Familien bezahlbar sind. Besonders betroffen sind Alleinerziehende. Armut und Perspektivlosigkeit halten sich in vielen Familien über Generationen.

Eine gerechte Gesellschaft beginnt bei den Kindern
Mit dem Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar dieses Jahres fordert die Diakonie ein transparentes Verfahren der Festlegung und Anpassung der Grundsicherung und betont das Recht jedes Menschen auf Existenzsicherung und Teilhabe. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der bedarfsgerechten Ausgestaltung der Hilfen für Kinder und Jugendliche zu.

Sieben konkrete Schritte auf dem Weg zu einer gerechten Gesellschaft:
1. Nach dem Rettungspaket für die Finanzwirtschaft ist es nun an der Zeit, den Sozialstaat zu stärken, so dass alle Menschen an der Gesellschaft und ihrem Wohlstand teilhaben können, statt seinem Abbau und wachsenden Finanzierungslücken zuzusehen.

2. Kinder brauchen ausreichende Möglichkeiten zur Teilhabe, Bildungschancen durch gute Betreuungsmöglichkeiten und pädagogische Angebote von Anfang an, damit sie gar nicht erst in den Kreislauf von Armut und Ausgrenzung geraten.

3. Die soziale Infrastruktur muss verlässliche Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien bieten. Der Ausbau einer weitgehend beitragsfreien Sozial- und Bildungs-Infrastruktur ist eine Hauptforderung der Diakonie und ein wesentlicher Beitrag zur Teilhabe von allen Familien mit geringem oder ohne Einkommen. Weitere Steuersenkungen auf Kosten der sozialen Infrastruktur und der Kommunen darf es nicht geben. Die Finanzierung der kommunalen Daseinsvorsorge muss dauerhaft gesichert werden.

4. Das Recht auf Wohnen und auf Sicherung des sozialen und kulturellen Existenzminimums muss angemessen und ohne Abschläge umgesetzt werden. Hilfen zum Wohnen müssen so ausgestaltet sein, dass sich die Wohngebiete mischen können und Kinder nicht in Gegenden aufwachsen müssen, in denen Perspektivlosigkeit zur Normalität wird.

5. Zu einer gerechten Gesellschaft gehört auch der wohnortnahe und barrierefreie Zugang zu einer bedarfsgerechten und erschwinglichen gesundheitlichen Versorgung. Unser Gesundheitswesen muss sich besser auf Kinder und Erwachsene mit Behinderungen einstellen. Besonders chronisch kranke Menschen mit niedrigem Einkommen müssen durch eine erweiterte Härtefallregelung vor finanzieller Überlastung geschützt werden.

6. Die Integration in existenzsichernde Arbeit bleibt die wichtigste Aufgabe. Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit dürfen nicht gekürzt werden. Soziale Hilfen müssen durch Regelungen flankiert werden, die Lohndumping verhindern und ein Einkommen ermöglichen, von dem Familien leben können.

7. Wer Hilfe braucht, muss mit Respekt und Würde behandelt, ermutigt und nicht durch Sanktionen unter Druck gesetzt werden. Gerade Kinder und Jugendliche lernen so, Hilfe anzunehmen, statt sich zu verweigern.

Gerechtigkeit und Solidarität zum Maßstab des Handelns machen
Wir stellen die soziale Ausgewogenheit der zurzeit diskutierten Sparvorschläge in Frage und fordern, Gerechtigkeit und Solidarität zum Maßstab politischen Handelns zu machen. Gesetzliche Regelungen müssen darauf überprüft werden, was sie für Menschen mit wenig Geld und insbesondere für die Chancen von Kindern bedeuten. Aus christlicher Verantwortung für den Nächsten bekämpfen wir Armut und setzen uns als evangelischer Wohlfahrtsverband für einen besseren Sozialstaat ein, der Menschen Wege weist und Kindern und Jugendlichen Perspektiven bietet.

Die Mitgliederversammlung der Diakonie Mitteldeutschland