Gewalt gegen Lehrer: „Dunkelziffer in Sachsen-Anhalt viel höher“

von 15. November 2016

Dies ergab eine bundesweit durchgeführte, repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa, im Auftrag vom Verband Bildung und Erziehung zum Thema Gewalt gegen Lehrer.

Rolf Busch, Vorsitzender des tlv thüringer lehrerverband, stellte gemeinsam mit seinem Stellvertreter Frank Fritze die Ergebnisse in Erfurt vor.

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„45.000 – das ist die gesamte Bevölkerung der Stadt Gotha“, führt Busch das Ausmaß der schulischen Gewalt vor Augen. „Und das sind nur die 6 Prozent der Kollegen, die bejaht haben, bereits selbst tätlich angegriffen worden zu sein.“ Der Studie zufolge ist die Zahl derer, denen Fälle körperlicher Gewalt gegen Kollegen an ihren Schulen bekannt sind, mit 21 Prozent noch einmal deutlich höher. „Und wenn wir die Erfahrungen mit psychischer Gewalt betrachten, also Beleidigungen, Beschimpfungen, Drohungen und ähnliches, dann sind die Zahlen noch alarmierender: 23 Prozent haben sie selbst erlebt, 55 Prozent bei Kollegen an ihrer Schule mitbekommen.

Bildlich gesprochen heißt das, dass mehr als die Einwohner von Erfurt und Jena zusammen – nämlich über 350.000 Lehrerinnen und Lehrer – schon direkt Opfer von seelischer Gewalt geworden sind.“

Schlimmste Erwartungen um ein Vielfaches übertroffen

Das Ausmaß der schulischen Gewalt habe selbst die Verantwortlichen beim VBE und dessen Landesverband tlv geschockt. „Wir wissen schon lange, dass es ein Problem mit Gewalt gibt“, so Busch zur Lage in Thüringen, „aber diese ist letztlich ein Symptom. Die Krankheitsursachen liegen viel tiefer. Unsere Lehrer sind permanent überfordert. Der allgemeine Lehrermangel, aber auch zusätzliche Herausforderungen wie die Integration von Flüchtlingskindern und die zurzeit über Gebühr forcierte Inklusion von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf führen dazu, dass Situationen eskalieren.“

Der tlv fühle sich nun in seinen schlimmsten Erwartungen übertroffen. „2002 haben wir auf sehr schmerzliche Weise erfahren müssen, wie weit die schulische Gewalt gehen kann. Aber diese Studie belegt, dass die Gewaltbereitschaft keinesfalls ein nur vereinzeltes Phänomen ist.“ Eine vor wenigen Wochen vom Kultusministerium Thüringen gegebene Antwort auf eine Kleine Anfrage der Opposition im Landtag zu diesem Thema zeige deshalb nicht die Wirklichkeit, weil dort der Eindruck entstehe, dass es sich lediglich um Einzelfälle handelt. „Allerdings wird dort auch deutlich, dass es überhaupt keine konkrete statistische Erfassung für dieses Problem gibt.“

Von der Politik allein gelassen

Die Antwort des TMBJS erkläre jedoch ein weiteres Ergebnis der Forsa-Studie. „Fast vier Fünftel der Lehrer fühlen sich von ihrer Landesregierung nicht ausreichend unterstützt. Zwei Drittel fühlen sich von der Schulverwaltung allein gelassen. Unterstützung nach einem Gewaltvorfall kommt in den meisten Fällen nur durch die Kollegen und die eigene Schulleitung.“ Deshalb sei es kein Wunder, erklärt Busch, dass bundesweit 57 Prozent der Befragten finden, Gewalt gegen Lehrer sei ein Tabuthema.

„Aber damit muss jetzt Schluss sein! Viele Betroffene schweigen, weil ihnen von verschiedenen Seiten signalisiert wird, dass es ihr eigenes Versagen ist, wenn sie Opfer von Gewalt werden.“ Der tlv, so der Landesvorsitzende, versuche seit Jahren, Präventionsarbeit zu leisten. „Unsere Forderungen nach einem KompetenzNetzwerk Schule, unser Kampf gegen die praxisfernen Regelungen zum Unterrichtsausfall, unser Bestreben, die Inklusion erst nach der Schaffung der Rahmenbedingungen umzusetzen – all das dient letztlich der Ursachenbekämpfung.“

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Zuletzt hatte der tlv aktiv die Kampagne Haltung zeigen des bayerischen VBE-Landesverbands BLLV unterstützt. „Wir erleben in letzter Zeit eine drastische Verrohung des Umgangs miteinander. Dieser zeigt sich auch im Verhalten der Schüler, wie die Studie eindrucksvoll belegt – aber nicht nur dort. Wir wissen, dass auch Lehrer und Eltern Gewalt ausüben. Wenn man den Fernseher einschaltet oder politische Debatten im Bundes- oder Landtag mitverfolgt, erlebt man tagtäglich das Symptom Gewalt.“

„Es flogen Stühle und so weiter.“

Zeitgleich mit der Forsa-Studie startete der tlv eine eigene, nicht repräsentative Umfrage unter seinen Mitgliedern. „Wir wollten unabhängig von den offiziellen Zahlen einmal hören, was die Kolleginnen und Kollegen in Thüringen konkret erleben“, erläutert Verbands-Vize Frank Fritze die Intention.

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„Das Ergebnis sind authentische Aussagen von Lehrerinnen und Lehrern, die massiver Gewalt ausgesetzt sind.“ So hätten zahlreiche Lehrpersonen von übelsten Beschimpfungen berichtet. Sätze wie „F*** dich ins Knie, Alte“ gehörten demnach für viele Kollegen fast schon zum Alltag. Aber auch die tätlichen Angriffe hätten schockierende Ausmaße erreicht. „Treten, Bewerfen mit Gegenständen bis hin zum Stuhl“, schrieb ein Kollege, andere berichteten „Werfen mit einem Pflasterstein“, „trat vor das Schienbein“. Selbst Todesdrohungen und sexuelle Übergriffe wurden gemeldet: „Ich wurde von einem Schüler mehrfach sexuell genötigt“, hieß es, und „Er […] sagte zu mir: ‚Wenn ich dich erwische, erschlage ich dich.’“

Therapie und Prävention müssen Hand in Hand gehen

Bei allem Schock, den die Umfrageergebnisse auslösten, ist es aus Sicht des tlv nun wichtig, sofort zu handeln. „Das Kind ist nicht nur in den Brunnen gefallen, sondern schon fast ertrunken“, so Busch. „Deswegen müssen jetzt Therapie und Prävention Hand in Hand gehen.“ Deshalb stellt der tlv die folgenden Forderungen an die verantwortlichen Bildungspolitiker:

1. Gewalt gegen Lehrer darf nicht mehr als ein Zeichen des Versagens der Lehrer ausgelegt werden.

2. Jede Schule braucht einen Plan für das konkrete Vorgehen beim Auftreten von Gewalt, inkl. unterstützender Soforthilfe für die Betroffenen.

3. Jeder einzelne Vorfall von Gewalt muss dokumentiert und in angemessener Form gespeichert werden. Es kann nicht sein, dass Gewalt keine Konsequenzen für die Täter hat, nur weil diese unter 14 sind.

4. Die immer wieder kritisch vorgebrachten Hinweise des tlv zum Personalmangel, insbesondere im Hinblick auf die integrativen und inklusiven Klassen, müssen endlich umgesetzt werden.

5. Es sind zeitnah KompetenzNetzwerke aus Sonderpädagogen, Schulpsychologen, Sozialarbeitern, Dolmetschern und ggf. auch Polizisten und Juristen zu schaffen, um das Problem Gewalt gegen Lehrer multiprofessionell angehen zu können.