Halle wartet auf den großen Ansturm

von 15. September 2015

Denn auch wenn der große Strom die Händelstadt noch nicht erreicht hat, so sind doch in den vergangenen Monaten im gesamten Stadtgebiet bereits immer neue Unterkünfte entstanden und bezogen worden. In einem Block am Robinienweg traute sich der Vermieter in die Öffentlichkeit. Jeder Bürger konnte sich die vorbereiteten Zimmer ansehen. Deutscher Kasernenstandard. Dort, in Halle-Silberhöhe, wohnen einige Flüchtlinge. Hallelife sah tagsüber im Vorbeigehen zahlreiche Fahrräder vor dem Eingang und Polizei. Im „Maritim“ am Riebeckplatz, wo im Oktober 740 Flüchtlinge unterkommen sollen (hallelife berichtete), ist der Hotel-Betrieb noch nicht eingestellt. Ab 1. Oktober 2015 wird das Haus für Flüchtlinge zur Verfügung stehen. So haben es der Betreiber und das Land Sachsen-Anhalt vereinbart; das Land hat eine Unterkunft, der Betreiber ein sicheres Geschäft.

Die Flüchtlinge sind noch kaum sichtbar, doch egal wohin man kommt, sind sie das Thema Nummer Eins. Überall – ob auf der Straße, in Kneipen oder Zuhause – wird debattiert und diskutiert. Vielfältig sind Ansichten und Annahmen: Man muss helfen, aber wie? Unkontrollierte Einwanderung ist ein Risiko; das gibt Bürgerkrieg. Die Moslems gehören nicht zu Deutschland. Man darf nicht alle über einen Kamm scheren. Religionsfreiheit muss für alle gelten. Und so weiter. Fronten pro und contra sind entstanden. Viele Menschen bewegen sich zwischen diesen Fronten und sagt: Helfen ja, aber mit Augenmaß. Was ist sinnvoll, was vertretbar und was blinder Aktionismus? Immer mehr Menschen wollen etwas tun. Überall ist die Botschaft zu lesen: „Refugees welcome!“ Dass Flüchtlinge willkommen sind, ist bei Linken, Alternativen, Künstlern, Intellektuellen, Hilfsorganisationen, aber auch ungebundenen Privatpersonen zu hören und zu lesen. Sie zeigen Flagge, sind aber nur scheinbar repräsentativ. Nach dem Willkommensfrühstück in Halle-Neustadt, wo die Pro-Flüchtglingsfraktion quasi unter sich war, trafen sich die Hilfsbereiten nun erneut im Opernhaus.

Es ist Montag, 14. September 2015, 18 Uhr. Rolf Stiska, Geschäftsführer der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle, begrüßt die Gäste im Opernhaus-Café. Man habe überlegt, was man kurzfristig tun könnte. Die Antwort sind an dem Tag Informationsstände und eine internationale Tafel. Es ist ein Anfang. Die Luthergemeinde, das Eigenbaukombinat, die Amnesty international Hochschulgruppe, Halle gegen Rechts, die Hallische Interkulturelle Initiative (HIKI), Medinetz Halle/Saale, die Freiwilligen Agentur Halle-Saalkreis und Inlingua haben aufgebaut. Das Café ist gut besucht. Kontakt aufnehmen und erfahren, wie man helfen kann, hat auch Lorri King von der Englischsprachschule „able“ hierher getrieben. Sie möchte gerne helfen. Wo sie wohnt, hat sie sich über ein Kind befreundeter Nachbarn gewundert, das mit den Flüchtlingen gar nichts zu tun haben will. Sie weiß: Ängste und Vorurteile sind verbreitet. Die Sprachschulinhaberin ist eines von vielen Positivbeispielen, wie Einwanderung funktionieren kann. Ihre Urahnen waren Canton-Chinesen. Die zogen in die USA. In Seattle wohnen Kings Eltern noch heute. King lebt seit 1996 in Deutschland. Die Sprache zu lernen, sagt sie, ist das Wichtigste und mit-, statt übereinander zu reden. Das ist genau das, was der SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby aus dem Senegal seit Jahren praktiziert. Er ist, ganz nebenbei, Moslem.

Verschleierte Frauen und Dunkelhäutige bewegen sich an diesem Abend unter den Deutschstämmigen. Flüchtlinge? Nein. Studenten mit Wurzeln in Jemen und Syrien unter anderem waren dabei. Doch sie wussten etwas zu sagen zu Krieg, Flucht und Vertreibung. Eine junge Frau zum Beispiel mit syrischen und palästinensischen Wurzeln. Ihre Familie ist schon lange in Deutschland, lebt jetzt in Braunschweig. Die junge Frau ist zum Studium in Halle. Teile ihrer großen Familie lebten bis vor einem Jahr in Syrien. Dann flohen sie. Der Name eines Ortes fällt: Yarmouk! Das palästinensische Flüchtlingslager ist die Hölle, besagen zahlreiche Berichte von dort. Wie die Studentin berichtet, waren junge Menschen, darunter viele Palästinenser, 2011 auf die Straßen gegangen, um gegen das Assad-Regime zu demonstrieren und mehr Freiheit zu fordern. Der Funke des „Arabischen Frühlings“ war nach Syrien übergesprungen. Ein bewaffneter Konflikt, Assad versus Rebellen, entstand. Von Anfang an im Bombenhagel: Yarmouk. Erst sprachen die Waffen der Regierung, im Frühjahr 2015 berichteten Medien dann von der Eroberung des Lagers durch Truppen des Islamischen Staates. Der stolzeste Ort der seit 1948 vor Israel geflüchteten Palästinenser ist zur Todesfalle geworden. Familienmitglieder der jungen Frau aus Braunschweig sind erst nach Ägypten geflohen. Einige von ihnen sind dort in ein Flüchtlingsboot nach Italien gestiegen. Das für 100 Menschen ausgelegte Seefahrzeug war mit 380 Menschen beladen. Es kenterte kurz vor der italienischen Küste, doch die Flüchtlinge kamen lebend an Land. Die Familiemitglieder zogen weiter nach Schweden. Dort aufgenommen zu werden war vor einem Jahr noch leichter als in Deutschland.

Warum die Menschen die gefährliche Flucht über das Meer riskieren und nicht mit einem Flugzeug nach Europa kommen? Ganz einfach, sagt die Braunschweigerin: Ein Flug wäre der legale Weg und für den braucht man ein Visum. Es bleibt also nur die illegale Einwanderung und die Bitte um Asyl. Warum kommen gerade jetzt so viele Menschen? Weil inzwischen jeder gegen jeden kämpft. „Es sind nicht mehr die Rebellen und Assad.“ Es gebe ganz viele Gruppierungen, mit denen sich selbst Einheimische nicht mehr auskennen. Die Braunschweigerin war in der Vergangenheit immer wieder in dem Land, von dem sie heute sagt: „Syrien ist ein schönes Land gewesen.“ Frauen konnten sich frei bewegen, ob mit oder ohne Kopftuch. Meinungsfreiheit habe es jedoch nicht gegeben. Jetzt ist die Lage außer Kontrolle. Menschen, die was besitzen, würden alles verkaufen für die Flucht.

Wie es gerade in Syrien zugeht, lässt sich auch bei einem Besuch auf der Seite der Deutschen Botschaft erahnen. Die Botschaft in Damaskus schreibt dort, dass sie keinem Deutschen mehr helfen kann. Sie verweist auf die nächste Botschaft in Beirut im benachbarten Libanon. Außerdem erklärt sie: „Zu den in der letzten Zeit verbreiteten Gerüchten nimmt die Deutsche Botschaft wie folgt Stellung: Deutschland schickt keine Schiffe in den Libanon oder die Türkei um dort Flüchtlinge abzuholen. Deutschland hat kein neues Flüchtlingsprogramm beschlossen. Bei der Deutschen Botschaft können keine Asylanträge gestellt werden. Dies sind falsche Gerüchte von Schleppern, illegalen Netzwerken und schlecht informierten Medien. Bitte beachten Sie: Schlepper lügen. Sie haben kein Interesse, Flüchtlinge über Probleme zu informieren. Schlepper sind keine vertrauenswürdige Quelle für Informationen über die Verhältnisse in Europa. Schlepper sind und bleiben Kriminelle, denen allein daran liegt, aus dem Leid der Flüchtlinge Gewinn zu schlagen.“

Im Oktober 2015 beginnt beim Flüchtlingsthema in Halle die heiße Phase. Zuvor wendet sich Halles Verwaltungsspitze an die Öffentlichkeit. Sie lädt gemeinsam mit der Evangelische Marktkirchengemeinden und dem Innenministerium für Donnerstag, 17. September 2015, 19 Uhr, zu einer Bürgerversammlung in die Marktkirche ein.