Hallenser erstellen ihr Bürgerprogramm

von 14. Mai 2011

Die Politikverdrossenheit in Deutschland ist groß. Bei der letzten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt ging nur knapp mehr als die Hälfte zur Wahl. Wie also kann man die Menschen wieder begeistern und vielleicht sogar zum Mitmachen bewegen? Als eine von 25 Städten in ganz Deutschland hat sich auch die Stadt Halle (Saale) an dem Projekt “BürgerForum 2011” beteiligt. Insgesamt 400 Hallenser wurden per Stichprobe ausgewählt. Mehrere Wochen haben sie miteinander diskutiert und ein “Bürgerprogramm” ausgearbeitet. Am Samstag nun war es nun in der Händelhalle soweit, das Programm mit konkreten Vorschlägen zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung liegt druckfrisch vor, auch wenn nicht alle 400 Ausgewählten bis zum Ende durchhielten. Finanzdezernent Egbert Geier nahm das 24 Seiten starke Heft entgegen. In der Schublade verschwinden soll das Programm keinesfalls, so Geier. Wie er gegenüber HalleForum.de sagte, sehe er das Bürgerforum mit dem konkreten Ziel, Lösungen zu finden, als Verbesserungsmöglichkeit für die stadteigenen Bürgerforen, die aus den Stadtteilkonferenzen hervorgegangen waren. Die seien mehr eine Meckerecke und es gehe nur um kurzfristige Probleme. An der Veranstaltung von Bertelsmann- und Nixdorf-Stiftung gehe es hingegen um das Finden von Lösungen für langfristige Probleme mit zielgerichteten Diskussionen.

Doch was genau wurde gemacht?
Insgesamt sechs Ausschüsse gab es zu den Themen Integration, Bildung, Demografie, Familiäre Lebensformen, Solidarität und Gerechtigkeit sowie Demokratie und Beteiligung. Jeder Arbeitsgruppe standen zwei “Bürgerredakteure” vor, die im Anschluss an die Diskussionen, die im Programm veröffentlichten Texte verfassten. Und in den Diskussionen zeigte sich für die Teilnehmer auch, was Politik bedeutet. Schließlich kamen die Teilnehmer aus allen Bevölkerungsschichten. Jung und Alt waren dabei, Professoren, Hartz-IV-Empfänger, Bauarbeiter, Hausfrauen. Manch einer schon politikerfahren, andere wiederum ohne Kenntnisse von diesem Thema. Schon allein das war eine spannende Mischung. Doch auch die unterschiedlichen politischen Ansichten prallten aufeinander, es mussten Kompromisslösungen gefunden werden, ähnlich so wie in der großen Politik.

Bürger trifft Politiker
Am letzten Tag des halleschen Bürgerforums war dann auch die Politik eingeladen. Gekommen waren der Landtagsabgeordnete und Stadtrat Thomas Felke (SPD), die Bundestagsabgeordnete und Stadträtin Petra Sitte (Linke), der Landtagsabgeordnete und Stadtrat Bernhard Bönisch (CDU), der Landtagsabgeordnete und Stadtrat (Hendrik Lange), MitBürger-Stadtrat Tom Wolter, Linken-Stadtrat Bodo Meerheim und SPD-Stadtrat Detlev Wend. Sie kamen mit den Teilnehmern des Bürgerforums direkt ins Gespräch, diskutierten mit ihnen eine Stunde lang. Auch eine neue Erfahrung, immerhin hieß es nun für die Politiker einmal selbst zuhören, und nicht nur gegen die Stadtverwaltung oder den politischen Gegner austeilen.

Viele verschiedene Themen wurden in den einzelnen Gruppen angesprochen. Zum Beispiel Arbeit und Mindestlohn. Ein ganz wichtiger Faktor sei die Arbeit, das habe sich auch in den Wahlprogrammen zur Landtagswahl gezeigt, hob Thomas Felke hervor. “Die neue Landesregierung wird sich daran messen lassen müssen, ob sie die Arbeitslosigkeit signifikant senken lassen konnte.” Zeitgleich diskutierten Bernhard Bönisch und Bodo Meerheim mit den Bürgern über die Forderung nach Mehrgenerationenhäusern. Viele Angebote gibt es schon, sie müssen halt nur bekannter werden. Ein älterer Mann schweifte dann etwas vom Thema ab, schimpfte auf Bönisch und Meerheim als vorsätzliche Wohnungsvernichter. 1.600 Menschen in Heide-Nord seien zwangsumgesiedelt worden. Er forderte den Stopp des Abrisses von Wohnungen. Denn die hätten seiner Ansicht nach nur das Ziel, dass die Ostdeutschen als Arbeitssklaven in den Westen müssten. Sollte sich nichts an der Situation ändern und weiter Wohnraum vernichtet werden, drohte er mit fliegenden Steinen. Bodo Meerheim verteidigte den Abriss, der mit Blick auf die Demografie nötig sei. In Halle gebe es 20.000 leer stehende Wohnungen. “Ohne Abriss wären es 15.000 mehr.” Für die Wohnungsunternehmen sei der große Leerstand eine enorme ökonomische Belastung.

Hendrik Lange, Tom Wolter und Petra Sitte hatten sich auf den Bereich Bildung konzentriert. Immerhin ist hier im Bürgerprogramm von einer Kindergartenpflicht die Rede. Außerdem wurde gefordert, die Erziehungs- und Lehrerberufe attraktiver zu machen, vor allem finanziell. Ein großes Problem ist laut Petra Sitte der hohe Anteil der älteren Menschen in diesen Berufen. Mehr als die Hälfte seien über 50 Jahre alt und gehen irgendwann in Pension, doch am Nachwuchs mangelt es. “Diese Zahlen liegen seit Jahren vor, aber die Landesregierung tut nichts”, kritisierte sie. Sitte wies daraufhin, dass Baden-Württemberg beispielsweise kein eigenes Lehramtsstudium habe und dadurch mehr Forschungsgelder zur Verfügung habe. Damit wiederum werbe man die Lehrer aus anderen Bundesländern ab. Die Entföderalisierung der Bildung wird im Bürgerprogramm ebenfalls gefordert, also beispielsweise bundeseinheitliche Lehrpläne. Auch ein TÜV für Lehrer und Direktoren wurde ins Gespräch gebracht.

Beim Thema Integration meldete sich eine Erzieherin an einer internationalen Kita zu Wort. Mehrere Sprachen zu sprechen, bedeute mehr Berufschancen. Und es gebe einen großen Bedarf, das zeige die Warteliste von 500 Kindern. Sie beklagte aber den Erziehermangel. Um eine familienfreundliche Gesellschaft zu erreichen, hatte eine Frau zahlreiche Punkte angesprochen. Da wären familienfreundliche Arbeitszeiten und eine kostenfreie Kita. Doch auch die Medien würden hier Verantwortung tragen. Weniger Gewalt forderte sie, doch auch eine realistischere Form der Familien und keine “heile Welt”.

Medien ohne Interesse?
Überhaupt kam das Thema Medien immer wieder in den Arbeitsgruppen auf. Doch weder Fernsehen, noch Zeitung und Radio ließen sich sehen. Dabei könnten diese zum einem besseren Verständnis von Entscheidungsprozessen, bei mehr Transparenz einen großen Schritt beitragen. Denn im Rahmen der Diskussion zwischen den Bürgern und Politikern hatten sich einige Punkte herauskristallisiert. Im Kern ging es dabei um die Fülle von Angeboten in dieser Stadt, um Begegnungszentren, Vereine, Mitwirkungsmöglichkeiten – alles ist da, und das nicht zu knapp. Die Angebote müssten bekannter werden, meinte ein Mann, statt Spielfilmen sollten die Fernsehsender lieber über solche Angebote informieren. Immer wieder sollen die Politiker und die Verwaltung auf die Bürger zugehen, sich ihnen stellen, auf das umfangreiche Angebot hinweisen. Eine Frau wiederum meinte, wer Interesse hat müsse sich auch “selbst auf die Strümpfe machen.” Die Bürgerschaft fühle sich nicht vertreten und abgekoppelt, hörte man aus der einen Ecke. Aus der anderen wiederum kam auch die Forderung, doch Eigeninitiative zu entwickeln. Auch die Bürgerschaft selbst ist also gespalten in diejenigen, die Informationen frei Haus auf dem Silbertablett serviert bekommen wollen und die, die meinen: wer etwas verändern will muss sich auch selbst bewegen.

Mitwirkung
Und mitmachen kann man an vielen Stellen. Zum Beispiel beim Freiwilligentag. Vor sieben Jahren mit 70 Teilnehmern gestartet, waren im letzten Jahr schon 621 dabei. “Wir wollen in diesem Jahr mindestens 700”, sagte Karen Leonhardt, die stellvertretende Geschäftsführerin der Freiwilligenagentur. Mehr als 50 Projekte gebe es, und eigene Ideen zu Projekten könne man auch noch einbringen. Das Besondere am Freiwilligentag sei zudem: “Man begegnet Menschen, denen man im normalen Alltagsleben nicht begegnet wäre”, so Leonhardt.

Und was nehmen die Politiker mit?
“Es freut mich, dass die Bildung eine hohe Priorität genießt”, so Petra Sitte. Denn Bildung sei wichtig für mündige Bürger. Sie rege die Einberufung eines Bildungskonvents an. Auch die geforderte Föderalismusreform finde sie spannend, denn Kommunen, Land und Bund hätten beim Thema Bildung eine gemeinsame Verantwortung. Hendrik Lange ergänzte, “das Kooperationsverbot muss aus der Verfassung wieder raus.” Skeptisch zeigte er sich beim Thema Kindergartenpflicht, doch solle das letzte Kita-Jahr so gestärkt werden, dass möglichst viele daran teilnehmen. Bernhard Bönisch fand vor allem die Diskussion darum spannend, ob man sich als Bürger Informationen abholen muss oder zugetragen bekommt. Auch die Frage nach Netzwerken für generationsübergreifendes Wohnen nahm Bönisch mit. Thomas Felke versprach, dass das Bürgerprogramm in den politischen Gremien ausgewertet werde. In der Stadtrats- und Landtagsfraktion der SPD werde man prüfen, was umsetzbar ist. Finanzdezernent Egbert Geier will die Hallenser künftig stärker bei der Aufstellung des Haushalts beteiligen, “um so die Wünsche und Belange der Bevölkerung herauszuhören.” Auch bei den Planungsunterlagen zum Beispiel für Bauvorhaben könnte es einige Verbesserungen geben, sagten Thomas Felke und Hendrik Lange. “Bislang bekommen die Bürger erst mit das gebaut wird, wenn die Bagger dastehen”, kritisierte Hendrik Lange. Hier müsste die Stadt also offensiver an die Öffentlichkeit gehen. Das wiederum sah Bernhard Bönisch anders. “Die Strukturen gibt es alle schon.” Als Beispiel nannte er die Bürgerinitiative zur Osttangente. “Man kann aber nicht zum Fast-Null-Tarif mitspielen”, forderte Bönisch auch ein Eigenengagement der Bürger ein.

Das Bürgerprogramm
Ausschuss für Solidarität und Gerechtigkeit: Recht auf würdige, erfüllende Arbeit und gerechte Entlohnung. Auch wenn ein Recht auf Arbeit kaum durchsetzbar ist, wollen wir versuchen, Möglichkeiten für würdige, gerecht bezahlte Arbeit zu schaffen. Renten sollen entsprechend der früheren Arbeitsleistung die ehemaligen Arbeitnehmer versorgen. Die gerechte Besteuerung der Arbeit ist uns wichtig.

Demokratie und Beteiligung: ständige Bürgerforen einrichten. Auf allen Ebenen, auf der Ebene der Kommune, des Landes und des Bundes werden Bürgerforen eingerichtet und regelmäßig abgehalten. Bürger diskutieren hier aktuelle Fragen und Probleme, Vertreter der Politik nehmen verpflichtend teil. Ehrenamtlichkeit wird geschätzt und gefördert.

Familiäre Lebensformen: familienfreundliche Gesellschaft. Die Familie soll im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen. Dazu braucht die Familie Anerkennung durch Wirtschaft und Staat. Es müssen Anreize zur Förderung der Familie geschaffen werden, die alle Beteiligten zufriedenstellen.

Integration: Menschenwürde und Integration durch Erziehung und Bildung. Wir sollten das Potenzial aller Menschen nutzen und unsere weltweite Gemeinschaft betonen. Hierfür muss ein Menschenbild gelehrt werden, das herausstellt, dass die Menschen den gleichen Ursprung und die gleiche Wertigkeit haben und es muss in der Ausbildung die Möglichkeit gegeben sein, sich zu begegnen.

Bildung: Entföderalisierung des Bildungssystems. Eine „Entföderalisierung“ des Bildungssystems ermöglicht, den gesellschaftlichen Erfordernissen entsprechende Entscheidungen in der Bildungspolitik so zu treffen, dass die Schüler bundesweit und flexibler nach einheitlichen Lernstrukturen auf ihre Zukunft vorbereitet werden können.

Demografie: generationsübergreifende Netzwerke. Die Vorteile des demografischen Wandels sollen innerhalb eines Stadtviertels in einer Einrichtung, die generationsübergreifend die Interessen der lokal eingebundenen Menschen vertritt, genutzt werden. dieses Zentrum ist aktiv in Kontakt mit den vorhandenen sozialen Einrichtungen im Stadtviertel.

Hallesche Sorgen auf Bundesebene
Am 28. Mai findet im ehemaligen Plenarsaal des Bundestages in Bonn die Abschlussveranstaltung statt. Vertreter aus allen 25 teilnehmenden Regionen Deutschlands sind dabei und werden Bundespräsident Christian Wulff das bundesweite Bürgerprogramm überreichen. An dem wird bis dahin noch gearbeitet.