Interview mit Christian Bürger, damaliger Sprecher der Botschaftsflüchtlinge

von 15. September 2014

Als Flüchtlingssprecher kümmerte er sich um alles, was anfiel: Zelte aufbauen, Helfer organisieren, Filme zeigen, Formulare für neue Flüchtlinge ausfüllen. Nach 18 Jahren in Bayern, Österreich und Spanien ist er wieder in die Heimat zurückgekehrt und lebt heute in Chemnitz. Er arbeitet als Betriebsleiter eines Landgasthofes und ist Berufsausbilder für angehende Köche in der SWA Chemnitz (sächsische Weiterbildungsakademie).

Herr Bürger, Sie sagen im Film sehr gerührt: „Es ist zwar 25 Jahre her, aber für mich immer noch ganz nah“. Wie realistisch und nah an den echten Lebensumständen in der Prager Botschaft von 1989 ist das Doku-Drama?

Christian Bürger: „Ich muss ganz ehrlich sagen, ich bin sehr geflasht. Ich finde mich und die Geschichte dieser Zeit absolut realistisch wiedergegeben, da ist nichts beschönigt, nichts weggelassen oder hinzugefügt worden. Ich habe dieses Thema noch nie so realistisch und ausführlich verarbeitet gesehen. Man muss ja bedenken, dass die Menschen in drei Flüchtlingswellen über die deutsche Botschaft in Prag ausgereist sind. Das ist natürlich eine Herausforderung, diese drei verschiedenen Ereignisse zusammenzubringen. Außerdem waren auch viele Geschichten dabei, die ich selbst noch nicht kannte, obwohl ich sehr lange in der Deutschen Botschaft in Prag war.“

Wie fühlt es sich an, wenn das eigene Leben zur Geschichte in einem Film wird?

Christian Bürger: „Man selbst sieht sich ja nicht als Protagonist. Ich hatte damals das Ziel zu fliehen und habe meine Erfahrungen gemacht. Ich machte mir 1989 keine Gedanken darüber, ob das mal Geschichte schreiben wird oder nicht. Dass das Ende der DDR so schnell kommt, damit hat ja keiner gerechnet. Aber wir ziehen uns heute den Schuh gerne an und sagen, dass wir das mit unseren Aktionen vorbereitet haben. Wie Hans Joachim Weber – der sich als Botschaftsmitarbeiter damals um die Flüchtlinge gekümmert hat – einst gesagt hat: ‚Die DDR-Bürger haben mit den Füßen abgestimmt‘.“

Der Moment, als Hans-Dietrich Genscher in der Prager Botschaft war und die Ausreise der Flüchtlinge verkündete, war sicherlich sehr bewegend?

Christian Bürger: „Ja, absolut. Es war ja praktisch unser zweiter Geburtstag. Das war der Moment, in dem wir unsere Freiheit wiedererlangt haben, auch wenn wir den Weg mit den Zügen durch die DDR noch vor uns hatten. Aber das war der Augenblick, als wir wussten: ‚Wir sind endlich frei‘ und diese Erinnerung bringt einen sofort und jedes Mal wieder genau in die Stimmung von damals.“

An welche Erlebnisse aus dieser Zeit erinnern Sie sich besonders intensiv?

Christian Bürger: „Ich selber kenne die Zeit von Juni bis zum 30. September in der Deutschen Botschaft. Danach wurden mit der zweiten und dritten Flüchtlingswelle die hygienischen Verhältnisse dort extrem problematisch – auch weil Tausende vor den Toren der Botschaft standen. Mütter mit Babys bei Minusgraden, viele Menschen wurden damals krank. Für mich ist die Zugfahrt durch das ehemalige DDR-Gebiet, auch die Angst die mitfuhr, in lebhafter Erinnerung geblieben. Als wir dann auf westdeutsches Gebiet kamen und die Zugtüren in Hof aufgingen, sind wir alle rausgesprungen und haben die Erde geküsst. Dieses Gefühl von Freiheit werde ich nie vergessen.“

Freiheit ist generell und besonders auch heutzutage ein sehr kostbares Gut. Es passiert vieles, was die Freiheit bedroht. Wie wichtig ist dieser Film und seine Thematik für junge Menschen?

Christian Bürger: „Mir ist es ganz wichtig, dass Menschen über die wirklichen Zustände des DDR-Systems, welches man heute zu Recht als „Unrechtssystem“ bezeichnen darf, aufgeklärt werden. Meiner Meinung nach wird an den Schulen zum Beispiel viel zu oberflächlich über dieses Thema aufgeklärt. Ich finde es persönlich unglaublich wichtig, dass die jungen Leute heute wissen, was Eltern, Freunde oder vielleicht Lehrer damals gemacht haben und dadurch die tatsächlichen historischen Hintergründe über den Zusammenbruch der DDR kennenlernen. Dieser sollte keinesfalls verklärt oder verharmlost werden. Diese Episode, die wir erlebt und an der wir mitgewirkt haben, trägt dazu bei, dass wir Freiheit schätzen lernen und nicht als etwas Selbstverständliches begreifen. Denn das ist sie für viele Menschen nicht.“

Sind Sie heute noch in Kontakt mit anderen Flüchtlingen?

Christian Bürger: „Ja, ich habe mit vielen ehemaligen Flüchtlingen Kontakt. Wir haben eine eigene Facebook-Gruppe „Botschaftsflüchtlinge Prag 1989“ und tauschen uns dort ständig aus. Ich bin auch in Kontakt mit den meisten Zeitzeugen aus dem Film.“