Katja Pähle: „Sachsen-Anhalt kann etwas – aber Sachsen-Anhalt kann noch mehr“

von 16. Oktober 2020

Zum Einstieg erinnerte an Katja Pähle an die Beratung des Ländereinführungsgesetzes in der frei gewählten Volkskammer am 22. Juli 1990:

„Wir erleben heute im Parlament eine historische Stunde. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR errichten als föderative Elemente Länder, deren verfassungsmäßige Ordnung den Grundsätzen eines republikanischen, freiheitlichen, demokratischen, sozialen und ökologisch orientierten Rechtsstaates entsprechen muss.“

Mit diesen Worten stellte der zuständige Berichterstatter, der Sozialdemokrat Volker Schemmel, in der Volkskammer die Ergebnisse der Beratung über das Ländereinführungsgesetz im Ausschuss für Verfassung und Verwaltungsreform vor.

Es hat schon Sinn, sich das noch einmal vor Augen zu führen: Die Neugründung der Länder trat zwar zeitgleich mit dem Einigungsvertrag am 3. Oktober in Kraft, aber die Wiedereinführung des Föderalismus als demokratisches Gestaltungsprinzip war eben nicht Teil der Übernahme einer bestehenden, westdeutschen Rechtsordnung, sondern die souveräne Entscheidung der demokratisch gewählten Volkskammer, als Ergebnis der seit der friedlichen Revolution in der DDR geführten Verfassungsdiskussionen.

Und auch Anzahl und Zuschnitt der Länder war nicht vorgegeben: Wie der Berichterstatter vermelden konnte, gingen zur Neugliederung der Republik mehr als 2.000 Vorschläge ein. Die vorgeschlagenen Modelle reichten von zwei bis zu elf Ländern. Was umgekehrt heißt: Auch die Entscheidung für fünf Länder – und damit auch für die Wiederbegründung von Sachsen-Anhalt – war die bewusste Entscheidung nach einem langen Diskussionsprozess.

Ich bin froh über die damalige Entscheidung. Ich mag unser Land. Ich mag meine Heimat – aus vielen Gründen. Nicht nur, weil Sachsen-Anhalt eine einzigartige Mischung aus Naturlandschaften, historischen Städten und Welterbe aller Arten bietet. Nicht nur, weil man in diesem vielfältigen Land ganz unterschiedliche Lebensentwürfe verwirklichen kann. Ich schätze an Sachsen-Anhalt auch die Möglichkeit zu gestalten, Politik zu machen; und zwar mit einem Maß von Bürgernähe, wie es in einem größeren Land gar nicht denkbar wäre.

Von so einem flächendeckenden Bürgerkontakt, wie wir ihn als Abgeordnete hier pflegen können,

von so viel Kenntnis der Probleme vor Ort können Landtagsmitglieder in Nordrhein-Westfalen oder Bayern nur träumen. Umgekehrt haben die Menschen in Sachsen-Anhalt ganz andere Chancen, ihren Abgeordneten auf den Füßen zu stehen als die Bürgerinnen und Bürger in den größeren Ländern, und ich finde: Das ist ein Wert für die Demokratie in unserem Land.

Deshalb stimme ich nicht ein in den Chor der Leute, die Sachsen-Anhalt schlecht reden oder belächeln, die es als „eins von diesen Bindestrich-Ländern“ abtun oder die es gerne sähen, wenn es in einem anderen Bundesland aufgehen würde.

Ich weiß, dieses Land wird gerne unterschätzt, aber es hat dadurch auch immer aufs Neue die Chance, positiv zu überraschen. Diese Chance müssen wir nutzen, denn wir müssen zeigen: Sachsen-Anhalt kann was. Die Art, wie wir durch die Corona-Krise kommen, ist für viele Länder ein gutes Beispiel.

30 Jahre deutsche Einheit und 30 Jahre Sachsen-Anhalt sind Anlass genug, die Menschen zu würdigen, die geschaffen haben, worauf wir heute aufbauen. Und ich meine an dieser Stelle einmal nicht die demokratischen Revolutionäre und nicht die erste Generation von Landespolitikern. Sondern ich meine die Leute, die nach 1990 eine bedeutsame Entscheidung getroffen haben: die Entscheidung, hier zu bleiben. Ich denke an dieser Stelle an die Generation meiner Eltern. Wegzugehen, in den industriellen Zentren Westdeutschlands gut bezahlte Arbeit zu finden – das wäre für viele der leichtere Weg gewesen. Viele sind ihn gegangen; und für viele schien es damals auch die einzige Alternative zu sein.

Deshalb können wir froh sein über alle, die sich entschieden haben zu bleiben; die sich hier neue Chancen erarbeitet haben; die vielleicht ein kleines Unternehmen gegründet haben; die sich in ihrer Stadt oder Gemeinde eingebracht haben.

Da jetzt viel von Wertschätzung die Rede ist: Diese Generation hat sie doppelt und dreifach verdient. Deshalb ist es auch so wichtig, für diese Generation eine gerechte Lösung bei der Ausgestaltung des Härtefallfond im Rentenrecht zu finden.

Ganz sicher ist allerdings: In 30 Jahren sind viele Weichen gestellt worden, von denen wir uns in der Rückschau wünschen, sie wären anders gestellt worden. Es ist gut und richtig, runde Jahrestage zum Anlass zu nehmen, auch Fehlentwicklungen anzusprechen und zum Beispiel die Geschichte der Treuhand oder die Folgen der Wirtschafts- und Währungsunion aufzuarbeiten.

Für die Politik eröffnen sich dadurch allerdings keine Möglichkeiten, die Uhren zurückzudrehen. Wir müssen dort anpacken, wo wir heute stehen. Ich habe vorhin gesagt: Sachsen-Anhalt kann was. Genauso wichtig ist aber die Feststellung: Sachsen-Anhalt kann mehr.

Beispiel Einkommenssituation: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Sachsen-Anhalt haben im Durchschnitt einen Bruttolohn, der um 500 Euro unter dem in dieser Hinsicht schwächsten westdeutschen Bundesland Schleswig-Holstein liegt. Er liegt aber auch um 50 Euro unter dem in Sachsen und 70 Euro unter dem in Brandenburg.

Armin Willingmann tut das Beste, was man dagegen machen kann: Er siedelt in unserem Land erfolgreich Unternehmen mit hoch qualifizierten Arbeitsplätzen an. Aber: In Sachen Einkommen geht noch mehr. Gefordert sind da vor allem die Unternehmen, aber das Land kann mit gutem Beispiel vorangehen. Deshalb ist das Tariftreue- und Vergabegesetz so wichtig, von dem ich sehr hoffe, dass die CDU-Seite in der Landesregierung jetzt endlich über ihren Schatten springt und den Weg für die parlamentarische Beratung dieses Vorhabens aus dem Koalitionsvertrag frei macht.

Beispiel Gesundheitsversorgung: Ja, Sachsen-Anhalt kommt gut durch die Krise, und daran hat Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne einen hohen Anteil. Ja, Sachsen-Anhalt hat immer noch eine gute Krankenhaus-Infrastruktur. Aber Sachsen-Anhalt hat auch einen Investitionsstau, und es braucht wie alle Flächenländer Innovationen für hochwertige Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Unsere Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch.

Beispiel Bildungspolitik: Sowohl bei der Einstellung neuer Lehrerinnen und Lehrer als auch bei der Nutzung digitaler Möglichkeiten bleibt Sachsen-Anhalt hinter anderen Ländern zurück. In keinem anderen Politikbereich sind die Risiken für die Zukunft unseres Landes so groß wie in der Bildungspolitik – und die Antwort darauf kann nicht irgendein unbestimmter Dialog über „Schulfrieden“ sein, sondern nur ein entschlossenes Anpacken. Auch dafür gibt es eine Vielzahl konkreter Ideen.

Die Liste ließe sich fortsetzen, und wir werden sie fortsetzen. Denn wenn wir 40 Jahre Sachsen-Anhalt begehen, dann soll unser Land so stark und so leistungsfähig, so gerecht und so lebenswert sein, wie es seinen Potentialen entspricht und wie die Menschen in diesem Land es verdienen.

     
PP