“Lassen Sie uns jetzt das Erreichte nicht verspielen”

von 23. April 2020

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung um Verständnis für die anhaltenden Einschränkungen in der Coronavirus-Pandemie geworben:

“Wir leben nicht in der Endphase der Pandemie, sondern immer noch an ihrem Anfang”, sagte Merkel am Donnerstag vor dem Deutschen Bundestag.

Wie man verhindere, dass das Virus das Gesundheitssystem überwältige und unzähligen Menschen das Leben koste, werde für lange Zeit die zentrale Frage der Politik in Deutschland und Europa sein. Durch die Maßnahmen der vergangenen Wochen sei ein wichtiges Ziel erreicht worden: “Unser Gesundheitssystem hält der Bewährungsprobe bisher stand.”

Schwere Entscheidungen

Ihr sei bewusst, wie belastend die Einschränkungen für jeden indivduell, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes seien. Diese Pandemie sei eine “demokratische Zumutung” und schränke das ein, “was unsere existenziellen Rechte und Bedürfnisse sind”, sagte Merkel.

Eine solche Situation sei nur erträglich, wenn die Gründe für die Einschränkungen transparent und nachvollziehbar seien und wenn Kritik und Widerspruch nicht nur erlaubt, sondern eingefordert und angehört würden. Kaum eine Entscheidung sei ihr in ihrer Amtszeit so schwergefallen wie die Einschränkung der persönlichen Freiheitsrechte, sagte Merkel.

Belastende Situation in den Pflegeheimen

Ganz besonders belaste sie die Isolation und Einsamkeit der Menschen in Pflege- und Altenheimen. Es sei “grausam”, wenn außer der Pflegekraft niemand da sein könne. “Diese 80-/90-Jährigen haben unser Land aufgebaut, der Wohlstand in dem wir leben, den haben sie begründet”, sagte Merkel und fügte an: “Wir kämpfen den Kampf gegen das Virus auch für sie.”

Durch Zusammenhalt sei gemeinsam erreicht worden, “dass sich das Virus auf seinem Weg durch Deutschland und Europa immerhin verlangsamt hat”, sagte Merkel im Bundestag. Das sei nur mit Hilfe der Bürgerinnen und Bürger möglich, die “mit Herz und Vernunft etwas für ihre Mitmenschen tun”, betonte die Kanzlerin. “Mich macht das unendlich dankbar”, so Merkel.

Die Kanzlerin betonte, sie stimme den Beschlüssen von Bund und Ländern über Auflagen und erste Lockerungen im Alltagsleben vorbehaltlos zu. “Doch ihre Umsetzung seither bereitet mir Sorgen”. Das Vorgehen wirke mitunter “sehr forsch, um nicht zu sagen, zu forsch”. Diese Aussage ändere gleichzeitig “kein Jota” daran, dass sie die Kompetenzen der Länder in der föderalen Ordnung des Grundgesetzes “auch beim Infektionsschutzgesetz aus voller Überzeugung achte”, fügte Merkel hinzu. “Lassen Sie uns jetzt das Erreichte nicht verspielen und einen Rückschlag riskieren”, appellierte die Kanzlerin. Wir müssten “klug und vorsichtig” handeln.

“Wir bewegen uns auf dünnem Eis”

“Die jüngsten Zahlen des Robert Koch-Instituts geben Hoffnung”, so Merkel. Dennoch bewegten wir uns aber “auf dünnem Eis, man kann auch sagen: auf dünnstem Eis.” Die Situation sei trügerisch. Noch sei Deutschland nicht über den Berg, appellierte Merkel. “Das ist eine Langstrecke, bei der uns nicht zu früh die Kraft und die Luft ausgehen dürfen.”

Letztendlich helfe nur ein Impfstoff, um die Pandemie zu beenden, so Merkel. Solange der noch nicht entwickelt sei, sei es ihre Pflicht zu mahmen und nicht auf das “Prinzip Hoffnung” zu setzen. Die Bundesregierung fördere die Entwicklung eines Impfstoffes finanziell mit einem großen Beitrag für ein neues nationales Forschungsnetzwerk.

Virus nur international zu bekämpfen

Die Bundesregierung unterstütze die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrem Mandat, betonte die Kanzlerin. Ein Virus, das sich in allen Staaten ausbreitet, könne nur international bekämpft werden: in der EU, G20 und in Zusammenarbeit mit den afrikanischen Staaten.

Merkel unterstrich, wie wichtig europäische Solidarität bei der Überwindung der Pandemie sei: Wir seien eine Schicksalsgemeinschaft, die füreinander einstehe – gerade bei unverschuldeter Not. “Auch Deutschland kann es auf Dauer nur gutgehen, wenn es Europa gutgeht”, betonte die Kanzlerin.

EU-Rettungspaket schnell umsetzen

Die Kanzlerin drang auf den schnellen Einsatz der EU-Hilfen für die besonders vom Coronavirus betroffenen Staaten. “Diese Pandemie betrifft alle, aber nicht alle gleich”, sagte sie. Es sei die Aufgabe zu zeigen, “wer wir als Europa sein wollen.” Sie hoffe, dass die Mittel bereits ab dem 1. Juni verfügbar seien, sagte sie mit Blick auf das bereits beschlossene Wirtschaftspaket im Volumen von mehr als 500 Milliarden Euro.

Zudem sprach sich Merkel für ein europäisches Konjunkturprogramm für die nächsten zwei Jahre aus: “Wir sollten bereit sein, im Geiste der Solidarität über einen begrenzten Zeitraum deutliche höhere Beiträge zu leisten, damit sich alle Mitgliedstaaten erholen können”.

Forderungen nach der Vergemeinschaftung von Schulden, so genannte Corona-Bonds, seien dagegen nicht hilfreich. Schon deshalb, weil alle nationalen Parlamente darüber entscheiden müssten, einen Teil des Budgetrechts auf europäische Ebene zu verlagern. Dies sei ein zeitraubender Prozess – doch jetzt gehe es darum “schnell zu helfen und schnell Instrumente in der Hand zu haben, die die Folgen der Krise lindern können”.