Lehrer: „Wir sind am Limit unserer Kräfte“

von 22. Februar 2017

Sachsen-Anhalts Bildungsminister Marco Tullner will die Unterrichtsversorgung im Land zu 100 Prozent sichern. Dafür bräuchte er nach eigenem Bekunden eine Personalbesetzung von 103 Prozent. Er nannte zahlreiche Herausforderungen: Die Schule soll die Bildungschancen erhöhen, Zukunftsperspektiven bieten, soziale Reparaturstelle sein, auf den Arbeitsmarkt vorbereiten, Integration und Inklusion absichern und so weiter. „Das ist viel und richtig.“ Doch für bestimmte Themen muss man sich mehr Zeit und Raum nehmen, so Tullner. „Die Inklusion ist eine schöne Idee, aber wenn man hört, was an den Schulen abgeht.“ Das geht auf Dauer nicht. Personal, bauliche Gegebenheiten und fehlende Akzeptanz. Was ist, wenn die Eltern nicht einverstanden sind mit der Inklusion? „Die Schule kann nicht alle Probleme lösen.“

Erst zu viele Lehrer, jetzt zu wenige – „Das wurde zu spät erkannt“

Tullner wünscht sich mehr Geduld und Langmut sowie eine realistische Sicht auf die Probleme. Jetzt müssen genug Lehrer gefunden werden und Quereinsteiger herangeführt. Neulehrer gab es nach dem Krieg schon einmal. Das ist jedoch eine Frage der Qualitätssicherung, wenn Akademiker über ihre berufliche Zukunft nachdenken und quer einsteigen wollen. Es gibt dafür bereits Beispiele in Berlin. Dort wurde das allerdings nach dem Muster „Schauen wir mal“ betrieben. „Welches Wissen ist für die Zukunft relevant? Ist es das, was wir heute haben?“ Unternehmen klagen, die Schüler heute könnten zum Beispiel keinen Dreisatz mehr. Die Frage ist: Was kann man in der Schule und was im Beruf vermitteln? Wir kommen aus einer Zeit, wo wir zu viele Lehrer hatten. Jetzt haben wir zu wenige, sagte Tullner und gab offen zu: „Das wurde zu spät erkannt.“ Aktuell liegt die Deckung mit Lehrern in Sachsen-Anhalt bei 91 bis 93 Prozent.

Das Bildungsministerium Sachsen-Anhalts ist intensiv damit befasst, neue Lehrer einzustellen, so Tullner. Zuletzt waren es binnen eines Jahres 729. Die Zahl soll in den kommenden Jahren auf 1000 bis 1200 steigen. „Ich will stabile Rahmenbedingungen.“ Bei der Inklusion würde er gerne etwas zurückgehen, nicht weil er gegen Inklusion ist, sondern weil der Rahmen dafür fehlt. Doch in der Kenia-Koalition mit SPD und Grünen ist das in Magdeburg schwer durchzusetzen. SPD und Grüne hängen an der Inklusion. Auf einen Lichtblick wies Tullner noch hin: Im März 2017 kommt der neue Haushalt und danach sind für Schulneubauten 90 Prozent Förderung drin.

Altersdurchschnitt der Lehrer bei 57 Jahren, Ausfälle und Motivationsprobleme

Sabine Breier ist seit 1983 Lehrerin an der Grundschule Hanoier Straße und seit vier Jahren Leiterin dieser Schule. In der Woche hat sie fünf bis acht erkrankte Kollegen. Ihre Tätigkeit als Schulleiterin kann sie kaum ausführen. Sie kommt erst am Nachmittag und Abend dazu, weil sie sonst Vertretungsstunden geben muss. Sie hat Langzeiterkrankte und Altersdurchschnitt der Lehrer von 56,8 Jahre. Es ist „ein Kampf wie Don Quichotte gegen Windmühlen. Ich weiß, dass es an anderen Schulen ganz genauso aussieht.“ Letzte Woche hat sie 100 Kinder neu in ihre Schule aufgenommen. Es ist ein permanentes Wachstum und inzwischen schwer, die Kollegen zu motivieren. Besserung war versprochen, aber es wird nicht besser. „Seit Jahren haben wir keinen pädagogischen Mitarbeiter, obwohl uns zwei zustehen.“

Zwei Mal in der Woche steht Schwimmen auf dem Plan. Es ist schwer, das abzudecken. Um das Schwimmen abzusichern, müssen andere Stunden ausfallen. Oder umgekehrt. Doch viele Kinder können nicht schwimmen, gehen aber im Sommer alle baden. „Ich sorge mich als Schulleiterin, Mutter und Großmutter und sehe schon die Schlagzeile.“ An der Grundschule herrscht ein engagiertes Miteinander, bekundete Breier. Es gibt tolle Projekte: Zirkus, Theater und so weiter. „Wir wollen das beibehalten.“

Lehrerausgleich funktioniert nicht – „Wir sind am Limit mit den Kräften“

Tullner zeigte sich überrascht, dass in Halle der regionale Lehrerausgleich nicht funktioniert, bei dem Schulen bei Engpässen einander mit Lehrern aushelfen. Auf dem flachen Land mit langen Anfahrtswegen kann er nachvollziehen, wenn der Ausgleich nicht klappt, aber in Halle sind die Wege kurz zwischen den Schulen. Tullner will den Unterricht als Ganzes sehen und nicht nach Zielgruppen sortieren. Monatelang hat er sich mit Einstellungen befasst. Er will mit mehr Personal und bedarfmindernden Maßnahmen gegen den Mangel steuern.

Kerstin Pallas, Leiterin der Grundschule Silberwald, berichtet von der durchschnittlichen Zusammensetzung ihrer Klassen: etwas mehr als 20 Kinder, davon vier Ausländer mit Null Deutschkenntnissen und vier Förderkinder. Es ist allgemein ein schweres Arbeiten, auch weil es unter den deutschen Kindern Entwicklungsunterschiede von drei bis vier Jahren gibt. Manche Kinder bekommen nicht einmal einen ordentlichen Satz zusammen. „Wir sind am Limit mit den Kräften.“ Gefühlt kommen jeden Tag neue Kinder dazu. Darunter traumatisierte Kinder. Die Lehrer können nicht mehr. „Die Idee mit dem regionalen Ausgleich finde ich gut.“

Große Zahl Lehrer geht bald in den Ruhestand – vorhandenes Personal pflegen

Die einzige weiterführende Schule für die Kinder der Silberhöhe befindet sich in Ammendorf. Der dortige Schulleiter, Ralf-Jürgen Kneissel, brach eine Lanze für die Silberhöhe: Das Klischee von der asozialen, bildungsfernen Silberhöhe stimmt nicht. Derweil beschrieb auch er das Personalproblem. In drei bis vier Jahren geht ein großer Teil der Lehrer in den Ruhestand, doch wenn man nicht aufpasst, dann scheiden sie wegen Überlastung noch eher aus. Deswegen warb er dafür, „das vorhandene Personal besser zu pflegen“. Es müssen endlich Taten folgen, sagte er.

Tullner verwies auf die hohen Steuereinnahmen und signalisierte so indirekt, dass jetzt wieder mehr möglich ist: „Wir hatten schon schlechtere Zeiten.“ Doch das System ist sehr träge, sagt er. Man arbeite nun unter anderem an einem Konzept für Seiten- und Quereinsteiger in den Lehrerberuf. Eine Mitarbeiterin im Bildungsministerium hat er dafür eigens abgestellt.