Mittelständlern aus Damaskus gefällt es in Halle

von 19. Oktober 2015

Die Bedenkenträger fragen: Kann das gut gehen und was bedeutet das für das gewohnte Leben in Freiheit? Von abenteuerlichen Reisen übers Meer berichten die Medien, vom Kampf am ungarischen Grenzzaun, von Chaos auf dem Münchner Hauptbahnhof, von konfiszierten Turnhallen und anderen öffentlichen Gebäuden, von Schlägereien zwischen verfeindeten Flüchtlingsgruppen, von Feindseligkeiten gegen Beamte und Hilfskräfte, von Respektlosigkeit gegenüber Frauen, von Vergewaltigungen, langen Warteschlagen und Tumulten. Knapp drei Monate vor Weihnachten ist es endgültig vorbei mit der heimeligen Ruhe in Deutschland. Unter den Einreisenden sind zahlreiche Syrer. Sie kommen aus dem Land, aus dem die Schreckensbilder vom Islamischen Staat und die grauenhaften Bilder von zerbombten Siedlungen um die Welt gehen.

Viele Einwanderergeschichten ähneln sich, doch jeder Bericht steht für ein einzelnes Schicksal und die individuellen Sicht drauf. Manches ist glaubwürdig, anderes weniger. Doch um die Frage zu beantworten, was hier wirklich passiert und warum, sind die Erzählungen Betroffener hilfreich. Die meisten Geschichten, die seit Wochen die Runde machen, sind Geschichten über „Flüchtlinge“, aber wie sehen sie selbst das, was passiert. Hallelife traf mit dieser Frage im Gepäck Anfang Oktober 2015 in den gemütlichen Retro-Kulissen des Cafés „Rosenburg“ unweit des Landesmuseums in Halle ein Ehepaar aus Damaskus, der Hauptstadt Syriens. Was sie berichteten, das ist hier unkommentiert zu lesen.

Visum für 10.000 Dollar

Khaled (Er) und Taghrid (Sie) sind westlich gekleidet mit Jeans und Sweatshirt, gehören nach finanzieller Ausstattung und Bildungsgrad zum Mittelstand. Sie trägt ihr langes, schwarzes Haar offen ohne Schleier. Er würde fast als jemand von hier durchgehen, nur spricht er kein Wort Deutsch und nur wenige Brocken Englisch. In Syrien handelte er mit Kosmetika und verdiente so gutes Geld. Taghrid arbeitete in Damaskus als Englischlehrerin, unterrichtete Kinder, auch privat. Entsprechend gut kann sie sich auf Englisch verständigen. So spricht meistens Sie, doch mit der Politik kennt Er sich besser aus, sagt Sie und fragt ihn immer wieder, wenn entsprechende Fragen kommen. Sie ist im neunten Monat schwanger und erwartet in den nächsten Tagen einen Sohn. Seit vier Monaten ist Sie in Deutschland, Er seit einem Monat. Sie kam mit dem Flugzeug. 10.000 Dollar hat das deutsche Visum gekostet. Wer es wie beschaffte, bleibt unklar. Nun, sagt sie, darf sie für immer in Deutschland bleiben. Taghrid wollte eigentlich nach Berlin, aber jemand sagte ihr, dass sie nach Halle gehen soll. Sie hat es nicht bereut, auf den rat gehört zu haben. Sie findet es schön hier und hat bereits eine eigene Wohnung. Bis es dort gemütlich wird, ist zwar viel zu tun, aber tatkräftige Hallenser haben Hilfe angeboten. Ihr Mann und ihr 17-jähriger Sohn waren 14 Tage unterwegs nach Deutschland, sind illegal eingewandert nach Europa. Einen anderen Weg sahen sie nicht, weil Geld für weitere Visa nicht da war. In Damaskus geblieben sind die Eltern der beiden und die kleine Tochter, da sie, wie Taghrid erzählt, zum Zeitpunkt der Flucht krank war und den langen Marsch nicht antreten konnte. Die Männer machten sich zunächst auf den Weg von der syrischen Hauptstadt zur türkischen Hafenstadt Izmir. Von dort setzten sie mit einem Boot an die griechische Küste über, denn an der türkisch-griechischen Landgrenze wären sie an Grenzzaun und Kontrollen gescheitert. Von Griechenland ging es entlang der Hauptroute über Mazedonien, Serbien und Kroatien weiter Richtung Österreich und dann im Zug Wien-Berlin nach Halle an der Saale. Insgesamt sind das rund 4000 Kilometer.

Millionen Menschen haben Syrien verlassen. Die meisten leben nun in den friedlichen Nachbarstaaten Syriens – in der Türkei und im Libanon. Die syrische Armee war 2011 am Anfang des Krieges schwach. Mit der Ausweitung der Kämpfe brauchte sie immer mehr Soldaten. Entsprechend viele junge Männer waren zu rekrutieren. Doch weil die meisten von ihnen im barbarischen Schlachten nicht sterben wollten, flüchteten sie. Von 100.000 bis 200.000 toten Soldaten ist die Rede. So erklären Khaled und Taghrid, warum jetzt so viele junge Männer nach Deutschland kommen. Nicht nur von der Regierung wären sie sonst in den Kampf geschickt worden, sondern – je nachdem, wo sie sich aufhalten – auch von den verschiedenen Rebellen-Gruppen, die aus Sicht von Baschar al-Assad, seit 2000 Staatspräsident Syriens, und der mit ihm verbündete Präsident Russlands, Wladimir Putin, allesamt Terroristen sind. Zu den Rekruten hätte auch der Sohn von Khaled und Taghrid gehört. Er ist im wehrfähigen Alter und wäre bald nicht mehr der einzige Sohn. Taghrid ist mit einem Jungen schwanger und die Regel in Syrien besagt: Ein Sohn bleibt unangetastet, aber jeder weitere kommt zur Armee.

Der Krieg hat Syrien gespalten

Vor dem Krieg war die Mehrheit der Menschen für Assad, sagen Khaled und Taghrid, die Sunniten sind, wie Assad und die Mehrheit der Muslime. Seit Krieg ist, ist die eine Hälfte für und die andere Hälfte gegen Assad. Vor dem Krieg wollten die Menschen mehr Zivilisation und eine bessere Infrastruktur. Viele Menschen gingen vom Lande, wo das soziale Leben nicht so gut war, in die Stadt. Assad erklärte, sein Land voranbringen zu wollen. Dazu besetzte er alle Schaltstellen mit Mitgliedern seiner Familie. Vor dem Krieg war Politik kein Thema. Man sprach jedenfalls nicht offen darüber. Doch Syrien war für alle Länder und Religionen offen. Die Menschen konnten sich frei bewegen und zum Beispiel selbst entscheiden, wie sie sich kleiden.

Was hat den Krieg ausgelöst? Das Schlüsselereignis geschah in Deraa, einer Stadt ganz im Süden, berichtet das Paar. 18 Schulkinder wurden verhaftet, weil sie politische Graffiti an eine Mauer geschrieben hatten. Die Jungs wurden gefoltert. Der zuständige Behördenchef soll jemand aus dem Assad-Clan gewesen sein. Atef Najib, ein verhasster, 1992 suspendierter Geheimdienst-Offizier, der in Deraa zur größten politischen Macht aufstieg und nicht erst dort für Größenwahn und Gewalttätigkeit bekannt war. Die Eltern forderten die Freilassung ihrer Kinder und den Kopf Atefs. Assad sollte das Treiben stoppen und sich entschuldigen. Deraa hatte als mehrheitlich regierungstreu gegolten, aber Najib hat das Bild in nur zwei Jahren gedreht. Assad ließ in abziehen und unter Beobachtung stellen. Was da im Süden Syriens passierte, erfuhr Khaled von einem Freund, der in Deraa lebte.

Aussagen der Nato-Staaten nicht glaubwürdig

Inzwischen ist alles außer Kontrolle geraten. Viele Syrer schauen nun auf das Eingreifen der Russen, nachdem es die Nato-Mächte, allen voran die USA, angeblich nicht schafften, den Islamischen Staat unter Kontrolle zu bringen. So behaupteten die Amerikaner, dass sie in dem Gebiet zwischen Rakka (Ar-Raqqa), einem der wichtigsten Stützpunkte des Islamischen Staates, und Palmyra (auch Tadmor), der Welterbestätte, keine Isis-Truppen sehen konnten. Das ist unglaubwürdig, denn es handelt sich um eine flache Wüstenregion ohne jede Deckung. Das Ergebnis ist bekannt: Die Terroristen zerstörten die wertvolle Kulturstätte.

Im Interview mit Journalisten des russischen Senders RT hat Assad auf das falsche Spiel des Westens hingewiesen, einige Fluchtgründe angesprochen und den Verlust so vieler Landsleute beklagt. Assad sprach auch die Präsidentschaftswahlen 2014 an, wo zahlreiche Syrier unter anderem im Libanon, also Flüchtlinge, ihn gewählt und so die Behauptung des Westens widerlegt haben, sie seien alle vor dem Assad-Regime geflohen. Außerdem kritisierte er die EU, tote Flüchtlinge stärker zu beweinen als die im Kampf gegen den islamischen Terror getöteten Menschen. Dass der Westen gute und böse Terroristen unterscheide, sei nicht hinzunehmen. Die Absetzung des Präsidenten als Lösung der Probleme hinzustellen, sei Propaganda. Vielmehr ginge es dem Westen darum, in Staaten wie Syrien oder dem Iran Marionetten des Westens zu installieren. Als Ausgangspunkt für den inzwischen seit vier Jahre andauernden Krieg in Syrien sieht Assad den Einmarsch der US-Amerikaner 2003 im Irak. Die Wurzeln des IS seien dort schon 2005 gelegt worden. Schließlich fragt Assad, warum es nicht in Saudi-Arabien zur Revolution kommt, wo Demokratie dort nun wirklich ein Fremdwort ist. Inzwischen hat sich Russland in Abstimmung mit Syrien in die kriegerischen Auseinandersetzungen eingeschaltet und blamiert mit erfolgreichen Operationen die Nato-Staaten, welche die Ausbreitung des Islamischen Staates bisher (angeblich) nicht verhindern konnten.

Seite der Syrisch Arabischen Nachrichten Agentur (SANA)

http://sana.sy/en/

Russland an der Seite Syriens

http://syriatimes.sy/index.php/news/regional/19850-russian-parliament-unanimously-approves-use-of-military-in-syria-to-fight-isis

wie die USA den Islamischen Staat bewaffneten

http://syriatimes.sy/index.php/news/world/19975-ex-cia-officer-us-congress-arms-isil-in-syria-via-so-called-moderate-opposition

wie sich Russland gegen den westlichen Propagandakrieg wehrt

http://tass.ru/en/opinions/825732

was Assad über den Krieg in Syrien und die Fluchtwelle sagt (youtube)

https://www.youtube.com/watch?v=y0FU8D39BI4

Bericht von amnesty international über den Krieg und das Assad-Regime

https://www.amnesty.de/journal/2011/juni/aufstand-gegen-assad

was die Unruhen und schließlich den Krieg in Syrien auslöste

http://www.thenational.ae/world/syria/the-man-who-ignited-the-syrian-revolution