Neujahrsrede der Oberbürgermeisterin

von 15. Januar 2004

Ich begrüße Sie alle sehr herzlich und freue mich besonders über die vielen Ehrengäste, die heute bei uns sind. Unter ihnen begrüße ich herzlich Herrn Minister Kley, Herrn Dr. Fikentscher, den Vizepräsidenten des Landtages, den Vorsitzenden unseres Stadtrates Herrn Bönisch, Herrn Burton, den Generalkonsul der Vereinigten Staaten von Amerika, unseren Ehrenbürger Herrn Professor Raabe und die Vertreter der Salzwirkerbrüderschaft im Thale zu Halle, und natürlich Sie, liebe Hallenserinnen und Hallenser! Ich freue mich, dass Sie so zahlreich in Ihr Rathaus gekommen sind. Die Flure unseres Ratshofes sind gut gefüllt. Das zeigt mir, wie sehr Sie an den Geschicken unserer Stadt interessiert sind. Liebe Hallenserinnen und Hallenser, verehrte Gäste, ich möchte heute in wenigen Worten Grundsätzliches darüber sagen, wo wie stehen und wohin wir gehen müssen. Meine These lautet: Wir – die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt – begreifen die tiefgehende Krise unserer Gesellschaft als Gestaltungschance. Wir verabschieden uns von Illusionen, verzichten dabei aber nicht auf Visionen. Wir sind bereit zu gravierenden Veränderungen, werden dabei aber die sozialen und demokratischen Grundpfeiler unseres Gemeinwesens verteidigen. Am Beginn dieses neuen Jahres wird unser Alltag von einem schwer durchschaubaren Geflecht aus Pessimismus und Angst – im Englischen gibt es das Wort „The German Angst“ -, aber auch von dem tiefen Wunsch, in fast allen Bereichen der Gesellschaft Neues zu denken und entsprechend zu handeln, geprägt. Neueste Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Deutschen Reformen will. Diese Bereitschaft muss von den Entscheidungsträgern in Politik und Gesellschaft aufgegriffen und genutzt werden. Ich bin der Auffassung, dass die Bürgerinnen und Bürger zu Recht klare Worte erwarten, was und wie reformiert werden soll. „Es muss anders werden“: Diese Forderung bestimmt heute alle Diskussionen um Wirtschaft, Soziales, Wissenschaft, Bildung und Kultur. In Ostdeutschland ist schon einmal „alles anders“ geworden. Diese alltägliche Erfahrung des Umbruchs seit der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung ist heute von großem Nutzen, sie hilft uns dabei, Lebenslügen deutlicher zu erkennen und auf den praktischen Kern der Probleme zu stoßen. Seit dem Herbst 1989 bis zum heutigen Tag geht es im Osten Deutschlands überhaupt nicht um die schrittweise, gut abgefederte und oft halbherzige Veränderung des Althergebrachten. Es ging und es geht hierzulande um Abbruch, Umbruch, auch um Verwerfung. Das heißt, Tempo und Ausmaß des „Anderswerdens“ sind historisch einmalig. Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, es ist nicht zynisch, sondern realistisch, die Härte der Situation und die dabei zu bestehenden Herausforderungen als Chance für die Gestaltung der Zukunft zu begreifen. „Uns kann man nichts (mehr) vormachen“ ist ein alltägliches Wort bei uns im Osten, das sowohl Resignation als auch gesunden Menschenverstand und Trotz meint. In einem Kommentar einer großen deutschen Tageszeitung (FAZ, 4. Dezember 2003) heißt es: „Jetzt, da das Wort Subvention grundsätzlich negativ belegt zu sein scheint, schwindet das Verständnis dafür, weshalb Ostdeutschland Jahr für Jahr besondere Transferleistungen in Milliardenhöhe bekommt.“ An Stammtischen macht dann schnell das Wort vom „Fass ohne Boden“ die Runde. Die das sagen, haben nichts begriffen. Tatsache ist: Der Aufholprozess im Osten ist schon seit mehr als sechs Jahren unterbrochen. Seit 1997 wächst die ostdeutsche Wirtschaft nicht stärker als die westdeutsche. Fachleute haben ausgerechnet, dass es ca. 60 Jahre dauern würde, bis auch nur 80 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts erreicht wären. Vor dem Hintergrund dieser Situation ist es meine Aufgabe, zusammen mit dem Stadtrat und Ihnen, liebe Hallenserinnen und Hallenser, eine klare Positionsbestimmung vorzunehmen und Problemlösungen zu entwickeln. Halle, die größte Stadt in Sachsen-Anhalt, leidet bis heute unter dem völligen Niedergang der traditionellen industriellen Großstrukturen und einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit mit all ihren Folgen, nämlich Bevölkerungsrückgang, Abwanderung der Jungen und Qualifizierten, Wohnungsleerstand und leeren Haushaltskassen. Das ist die eine Seite der Medaille und ist Tatsache. Aber auch das ist wahr: Es ist in einer gewaltigen finanziellen Kraftanstrengung gelungen, industrielle Kerne im ehemaligen Chemiedreieck zu retten. Dabei sind modernste Industriestrukturen aufgebaut worden, die weltweit konkurrenzfähig sind. Unsere gesamte Infrastruktur wurde modernisiert und ist heute effektiver als in vielen Teilen der alten Bundesländer. Wissenschaftliche und kulturelle Vielfalt und Offenheit gehören heute zu den Markenzeichen Halles. Seit den Tagen der friedlichen Revolution haben sich auch in Halle wirksame Instrumente der Bürgerbeteiligung und demokratischen Willensbildung entwickelt, die in der DDR undenkbar gewesen wären. Und das ist die andere Seite der Medaille, die „Haben-Seite“. Liebe Hallenserinnen und Hallenser, wir, die wir die gegenwärtige Krise als Chance nutzen wollen, brauchen die Verbindung von Pragmatismus und Visionen. Das heißt, wir bestimmen unsere Kernkompetenzen neu. Industrielle Großproduktion wird das Gesicht unserer Stadt nie wieder prägen. Unsere Stärken aber, historisch gewachsen und in die Zukunft reichend, sind Wissenschaft, Kultur und Bildung. Und da sind wir in Halle unschlagbar gut! Unsere Martin-Luther-Universität ist mit ihren 6 900 Beschäftigten und 18 000 Studenten der bedeutendste Standortfaktor in unserer Stadt. Der Hochschulstandort Halle muss weiter modernisiert werden. Einen Abbau von Forschung und Lehre können wir uns auf keinen Fall leisten. Hier erwarte ich, dass die Landesregierung gemeinsam mit der Universität akzeptable Lösungen findet und dabei der Hochschulautonomie den ihr gebührenden Stellenwert gibt. Die Erfolgsgeschichte des Wissenschafts- und Innovationsparks auf unserem Weinberg Campus wird ihre Fortsetzung finden, wenn unsere Universität ein Leuchtturm der Lehre und Forschung bleibt. Dann werden weitere Unternehmensgründungen im Hochtechnologiebereich stattfinden und neue attraktive Arbeitsplätze geschaffen werden. Deshalb ist unsere Bewerbung als „Stadt der Wissenschaft“ ist nur folgerichtig. Meine Damen und Herren, liebe Gäste, Theater, Musik, Architektur, Bildende Kunst und Literatur in Halle: Hier präsentiert sich ein einmaliges Spektrum, das trotz der Händel-Festspiele viel zu wenig bekannt ist. Viele Gäste, die zu uns kommen, sind total überrascht von der Vielfalt und der Qualität der Angebote. Deshalb können wir uns selbstbewusst um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2010“ bewerben. Und nicht nur deshalb, sondern auch, weil wir die Kultur des Wandels – in unserer Stadt seit langem Tradition – fortsetzen, unsere Stadt umbauen und ihr das einmal alte und schöne Gesicht zurückgeben, Brücken über die Saale in die Neustadt schaffen und aus dem Niedergang den Fortschritt gestalten. „Aufklärung durch Bildung“ ist das Leitmotiv des Themenjahres 2004 der Franckeschen Stiftungen, das genau in unsere Zeit passt. Schließlich sind unsere „Stiftungen“ mit ihren „Antworten aus der Provinz“ weit über Halle hinaus dafür bekannt, dass durch sie hochaktuelle geisteswissenschaftliche Diskussionen angestoßen werden. Liebe Gäste, dass der Staat nicht alles richten kann, gehört zu den schwierigen, aber auch befreienden, Wahrheiten der Gegenwart. Die Öffentliche Hand braucht aktive Partner in der Bürgerschaft, und da sind wir inzwischen vorbildlich! Suchen Sie eine vergleichbare Stadt, die so viele Bürgerinitiativen, kreative Gruppen und Vereine hat wie Halle. Und darüber hinaus sind es vor allem mittelständische Unternehmen und aktive einzelne Bürger, die unsere Stadt voran bringen. Ich möchte allen sehr herzlich danken, für die das Sprichwort „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ wieder aller Orten Grundlage unseres gemeinsamen Handelns zum Wohle unserer Stadt ist. Zeigen wir unseren Nachbarn in Osteuropa und manchen Zauderern im Westen unserer Republik, dass der Wandel gelingen kann! Wir können selbstbewusst auf das Geschaffene zurückblicken und gehen gut gerüstet in dieses Neue Jahr 2004. Nehmen wir die Herausforderungen an, die vor uns stehen: Stadt der Wissenschaft, 1200 Jahre Stadtjubiläum, Kulturhauptstadt Europas 2010 und die größte Chance Olympia in Leipzig 2012. Ich danke allen, die sich an der Vorbereitung dieses Empfangs beteiligt haben, vor allem der Rotkäppchen Sektkellerei GmbH Freyburg und der Leisslinger Mineralbrunnen, Unternehmensgruppe der Mitteldeutschen Erfrischungsgetränke GmbH, als Sponsoren sowie allen Mitveranstaltern, deren Mühe Sie auf allen Etagen bewundern können. Ich wünsche Ihnen für dieses Jahr Gesundheit und persönliches Glück und viel Erfolg für uns alle. Seien wir großzügig und freundlich zueinander. Alles Gute!