Ohne Täter keine Opfer

von 27. April 2010

Mit einer Gedenkveranstaltung im Löwengebäude wurde am Montag an die Opfer stalinistischer Gewalt zwischen 1945 und 1989 erinnert. Allein an der halleschen Universität wurden 168 Männer und Frauen – ob Studenten, Angestellte oder Professoren – abgeurteilt. Vorgestellt wurde ein Buch über ihre Schicksale.

Zu den Rednern des Tages gehörte Joachim Gauck, Vorsitzender der Vereinigung "Gegen Vergessen – Für Demokratie" und einst der erste Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Man dürfe nicht nur Interesse an den Opfern zeigen, so Gauck, sondern müsse auch die Täter im Blick haben. „Denn ohne Täter keine Opfer.“ Doch die Aufarbeitung stockt, findet Gauck. Wohl auch, um niemandem wehzutun. Doch die „unerbitterliche Willkür“ der Machthaber müsse thematisiert werden.

Genau das passiert mit dem Buch „Opposition, Widerstand und Verfolgung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1945-1961“ von Sybille Gerstengarbe und Horst Hennig. In der Dokumentation wird sich dieser in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Thematik angenommen. In ihrem Vortrag erinnerte Gerstengarbe an einige spezielle Schicksale. Zum Beispiel an das von Willi Brundert. Der Uniprofessor wurde 1949 verhaftet und wegen angeblicher Spionage für die Briten in einem Schauprozess im Dessauer Theater zu 15 Jahren Haft verurteilt. Acht Jahre später kam er frei, flüchtete in den Westen, machte dort später politische Karriere, unter anderem als Oberbürgermeister von Frankfurt am Main. Die damalige Richterin: Hilde Benjamin, genannt „Rote Hilde“, später Justizministerin der DDR. Ein Name, der auch bei vielen anderen Stalinismusopfern auftaucht. Vernehmer: der spätere Volksbildungsminister Fritz Lange. Und der machte laut Gerstengarbe deutlich, dass man Brundert schon irgendwas anhängen werde. Heinz Nöhricke war der erste Verurteilte an der halleschen Universität, 10 Jahre musste er ins Gefängnis. Der Sportlehrer Helmut Huwe wurde im März 1952 verhaftet. Als angeblicher Spion wurde er im September 1952 in Moskau hingerichtet. Seine Familie erfuhr erst 18 Jahre später davon. Hingerichtet wurde auch der Slawistikstudent Herbert Schönmuth, im März 1952 in Moskau. Studentenpfarrer Johannes Hamel wurde 1953 inhaftiert, das MfS warf ihm Spionage vor. Auch der Geologe Hans Gallwitz, Mitglied der Leopoldina, wurde Opfer der DDR-Justiz.

Mitgeschrieben an dem Buch hat Horst Hennig, einst selbst verhaftet. Am 10. März 1950 um 23 Uhr wurde er von mit Maschinenpistolen bewaffneten sowjetischen Militärs abgeholt. Zwar war Hennig SED-Mitglied und überzeugter Kommunist, doch auch Demokrat. So beschwerte er sich bei einer Studentenratswahl an der Martin-Luther-Universität über die bereits feststehenden Vertreter. Er strich einige Namen durch und fügte andere hinzu, statt den Wahlschein nur zu falten. Unter dem Vorwurf, eine "illegale Widerstandsgruppe an der Uni" gebildet zu haben, wurde Hennig mit sechs weiteren Studenten verhaftet. Weder Eltern noch Gasteltern bekamen davon etwas mit und wussten auch Wochen später nichts von der Verhaftung. Hennig galt es spurlos verschwunden. Im Roten Ochsen wurde den Verhafteten unterdessen Spionage und Trotzkismus vorgeworfen. Urteil: 25 Jahre Strafarbeit in Sibirien. Es ging nach Workuata. Auf 60 Grad unter Null sinkt hier in manchen Nächten das Thermometer. Hennig wurde unter Tage in der Kohleförderung eingesetzt, blieb insgesamt 5 Jahre in Workuta und überlebte auch den Lager-Aufstand 1953 nach dem Tode Stalins. Umklassifiziert als Kriegsgefangener, damit die Sowjetunion nicht zugeben musste auch Zivilisten interniert zu haben, kehrte Hennig 1955 nach Deutschland zurück. Seine Heimat im Mansfelder Land ließ er aber hinter sich, ging nach Köln und setzte dort sein Medizinstudium fort. Später arbeitete er als Truppenarzt bei der Bundeswehr. Neben Hennig überlebten noch zwei weitere hallesche Studenten die russischen Lager, vier starben in Sibirien.

Sybille Gerstengarbe und Horst Hennig: Opposition,
Widerstand und Verfolgung an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg 1945-1961. Eine Dokumentation. Leipzig
2009, 750 Seiten, 39,00 Euro, ISBN: 9783865832627