Strukturwandel-Projekt Orgacid-Gelände in Ammendorf

von 27. Juli 2021

Die Grundlage für die Revitalisierung des mengenmäßig mit Abstand größten Produktionsstandortes (Lost) für Chemiewaffen im Zeitraum von 1914 bis 1945 in Deutschland bilden die Ergebnisse einer aktuellen Studie (HGR/HE), die die Stadt vor einem Jahr in Auftrag gegeben hatte. Auf Druck des CDU-Landtagsabgeordneten Thomas Keindorf hat die Stadtverwaltung eine Kurzfassung der Studie veröffentlicht. „Anhand der Ergebnisse lässt sich weiterer Handlungsbedarf ableiten. Eine Verunreinigung des Grundwassers mit toxischen Stoffen (Neben- und Abbauprodukte der Lost-Produktion) ist dokumentiert. Die Lokalisierung des Schadstoffeintritts in das Grundwasser ist mangels geeigneter Messstellen jedoch unmöglich“, fasst Keindorf zusammen.

Eine fehlende Sicherung des Grundwassers in der Vergangenheit vor Kontaminationen mit Lost-typischen Verbindungen wird auch von CDU-Stadtrat Johannes Streckenbach kritisiert: „Zwar wird seit 2007 am Standort das Grundwasser in einer Anlage zur Behebung des LHKW-Schadens (Leichtflüchtige halogenierte Kohlenwasserstoffe) der ehemaligen Ammendorfer Plastwerke gefiltert. Allerdings blieben hierbei Schadstoffe, die dem Orgacid-Gelände zuzurechnen sind, bis 2018 unberücksichtigt. Auch werden die Grundwasserfließverhältnisse am Standort durch den Betrieb der Anlage signifikant verändert.“

Die jährlichen Betriebskosten der Anlage belaufen sich nach Angaben der Landesregierung auf 152.000 Euro. Über 4 Mio. Euro hat das Land Sachsen-Anhalt in die Sanierung des LHKW-Schadens bisher investiert. Nach Einschätzung des Landtagsabgeordneten ist es erforderlich, die Einzelmaßnahmen vor Ort zu bündeln und aufeinander abzustimmen. „Die weiteren Maßnahmen zur Entwicklung eines klimaneutralen Gewerbegebietes gehören in eine Hand. Neben der Entwicklung des RAW-Geländes und dem „Star Park II“ als Leuchtturmprojekte sehe ich hier die größten, nachhaltigen Potentiale für die Stadt Halle und die Region.“

Die Stadt Halle hat angekündigt, im IV. Quartal 2021 eine Detailuntersuchung mit Gefährdungsabschätzung zur Bewertung des Handlungsbedarfs zu beauftragen. Bund und Land haben mit dem Investitionsgesetz Kohleregion (InvKG) und der entsprechenden Förderrichtlinie die Voraussetzungen für Planung, Erwerb, Bodensanierung und Herrichtung von Flächen für Unternehmen geschaffen.

Historische Erkundung (HE) der Kampfstofffabrik Orgacid GmbH in Halle-Ammendorf

– Kurzfassung –

In Halle-Ammendorf wurde ab 1935 mit dem Bau eines Werkes zur Produktion von Hautkampfstoffen begonnen. Betreiber der Anlagen war die Orgacid GmbH. Hergestellt wurden von 1936-45 verschiedene Varietäten Schwefellost sowie Stickstofflost. Insgesamt wurden in Summe rund 26.000 t Kampfstoff ausgeliefert. Hauptabnehmer war das Oberkommando des Heeres, untergeordnete Mengen wurden an die Privatwirtschaft ausgeliefert. Damit handelt es sich bei der Ammendorfer Anlage um die mengenmäßig mit Abstand größte Produktionseinheit für chemische Kampfstoffe, die im Zeitraum 1914-45 in Deutschland betrieben wurde. Ein kleinerer Teil der Ammendorfer Loste wurde direkt am Standort in Kampfmittel verfüllt. Die überwiegende Menge wurde in Eisenbahnkesselwagen den reichseigenen Kampfstoff-Munas in Munster, Oerrel, Löcknitz, Lübbecke, St. Georgen, Mockrehna und St. Georgen zugeführt. Zudem wurden in Ammendorf neben den Kampfstoffen auch einige der zu ihrer Herstellung benötigten Zwischenprodukte hergestellt. Zu nennen wären hier beispielsweise 2-Chlorethanol, Ethylenoxid und Thiodiglykol.

Das Ammendorfer Werk bestand aus fünf funktionalen Einheiten, der A-Anlage (Vorprodukte), B-Anlage (Schwefelloste), T9-Versuchsanlage (Stickstofflost), Füllstelle und Verwaltung. Die Lagerung der Schwefelloste erfolgte in einem Bunker im Norden der B-Anlage, die Lagerung des Stickstofflostes in einem Gebäude der T9-Anlage.

Nach Kriegsende wurden die Werksanlagen zunächst von amerikanischen, später von russischen Truppen besetzt. Letztere sprengten das Werk in der Folgezeit nahezu vollständig und ungeordnet. Hierbei kam es zu einer Freisetzung und Verteilung der am Standort gehandhabten Stoffe über weitere Teile des Werksgeländes. Restbestände an Kampfstoff wurden im Kesselhaus des benachbarten Plastewerkes verbrannt.

Ab 1953 erfolgten Entgiftungsarbeiten durch eine Spezialeinheit aus Kapen. Hierbei wurden u. a. Kampfstoffreste aus dem Lagerbunker für Schwefellost abgepumpt und auf dem Straßenweg zur thermischen Vernichtung nach Kapen transportiert. Zudem wurde kampfstoffhaltiges Wasser aus dem Lagerbunker abgepumpt, entgiftet und in den Vorfluter abgeleitet. Auch wurden große Mengen Schrott geborgen und entgiftet. Schließlich wurden Teile der B- und T9-Anlage mit einer mehrere Meter mächtigen Schuttschicht überdeckt. In der Folge wurde die A-Anlage für eine Nachnutzung freigegeben. Auch stand einer Nutzungdes Verwaltungsbereichs mit dem einzigen noch vollständig erhaltenen Gebäude der Orgacid nichts entgegen. Alle übrigen Werksbereiche sollten aufgrund vermuteter Restbelastungen für 50 Jahre nutzungsmäßig gesperrt bleiben.

Diese ausgedehnte Nutzungsbeschränkung währte jedoch nicht allzu lange. 1978 wurde die Fläche von Prof. Lohs von der Leipziger Forschungsstelle für chemische Toxikologie in Augenschein genommen und nur noch der Bereich des Lagerbunkers für Schwefellost für 50 Jahre gesperrt. Diese Neubewertung ermöglichte die Ansiedlung des VEB Braunkohlekombinats Bitterfeld auf Teilen der B-Anlage. Bis zur Wende dehnte sich die industrielle Nutzung auf dem ehemaligen Orgacid-Gelände immer weiter aus.

Anfang der 1990er Jahre erfolgten weitergehende Erkundungen der Fläche. So wurde der Lagerbunker für Schwefellost durch Einheiten der NVA einer abermaligen Entgiftung unterzogen. Im Anschluss wurde er zu einem größeren Teil freigelegt. Leider wurde hierbei die Chance vertan; ihn rückzubauen. Es schlossen sich Erkundungen des Bodens und Grundwassers an, die insbesondere Belastungen durch leichtflüchtige halogenierte Kohlenwasserstoffe (LHKW) ergaben. Deren Ursprung ist jedoch nicht ausschließlich in der Tätigkeit der Orgacid zu suchen, vielmehr ist auch das Plastewerk als Quelle anzusehen. Die analytischen Möglichkeiten zur Bestimmung kampfstofftypischer Verbindungen in Umweltmatrices waren in den 1990er Jahren noch nicht weit fortgeschritten, so daß die seinerzeit gewonnen Daten nur bedingt belastbar erscheinen.

1994/95 wurde der Bunker für Schwefellost gesichert und bis 2005 einer Nachsorgekontrolle unterzogen. Hierbei wurden im Grundwasser abstromig des Bunkers keine Loste, jedoch u. a. verschiedene cyclische Schwefelverbindungen vom Typ Dithian und Oxathian festgestellt. Diese sind als Verunreinigungen technischer Schwefelloste sowie teilweise auch als deren Abbauprodukte anzusehen. Seit 2018 erfolgt am Standort ein jährliches Grundwassermonitoring, bei dem ebenfalls vorgenannte cyclische Schwefelverbindungen gefunden werden.

Im Mai 2020 wurde der unterzeichnende Gutachter von der Stadt Halle/Saale beauftragt, eine historische Erkundung (HE) zu dem Orgacid-Gelände zu erstellen. Diese wurde im März 2021 vorgelegt. Hierbei wurden zunächst alle verfügbaren Altgutachten zum Untersuchungsobjekt gesichtet und neu bewertet. Im nächsten Schritt wurden systematische Archivrecherchen durchgeführt, Luftbilder verschiedenster Zeitschnitte beschafft, Zeitzeugen befragt und der Standort begangen. In Summe können folgende Feststellungen zu dem Standort getroffen werden:

Bei den produzierten Losten handelt es sich um hochtoxische Hautkampfstoffe, die zudem ein hohes carcinogenes und mutagenes Potential besitzen. Auch einige Zwischen- und Nebenprodukte sind als hochtoxische Substanzen einzustufen. Diese Bewertung der ursprünglich am Standort gehandhabten Stoffe bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, daß all diese Stoffe auch heute noch in signifikanten Mengen am Standort anzutreffen sind.

Grundsätzlich können sie in den Jahrzehnten seit Kriegsende in der Umwelt einem biotischen bzw. abiotischen Abbau und damit einer Konzentrationsminderung unterlegen haben. Auch die Anwesenheit der genannten cyclischen Schwefelverbindungen ist kein zwingender Hinweis auf die mögliche Anwesenheit intakter Loste in Boden oder anderen Umweltmatrices. Vielmehr stellen diese Substanzen typische Belastungen lostverunreinigter Standorte dar, die dem Gutachter in ähnlicher Form von diversen weiteren Standorten in Europa bekannt sind. Für die relevanten cyclischen Schwefelverbindungen liegen in Bayern und Niedersachsen Geringfügigkeitsschwellenwerte für das Grundwasser vor. Bringt man diese in Anwendung, ist im aktuellen Grundwassermonitoring eine GfS-Überschreitung für Oxathian bis zu Faktor 30 zu beobachten. Dies stellt einen Hinweis auf eine mögliche schädliche Grundwasserverunreinigung dar, dem weiter nachzugehen ist.

Die Quelle dieser Grundwasserbelastungen kann mit dem aktuellen Meßstellennetz kaum ermittelt werden. Aus diesem Grund schlägt der Gutachter vor, zusätzliche Altmeßstellen soweit möglich wieder in Betrieb zu nehmen bzw. neue Meßstellen zu errichten, so daß der Gesamtstandort meßtechnisch vollständiger abgebildet wird, als dies bisher der Fall ist. Zudem sind weitere Prüfparameter in das Monitoringprogramm zu integrieren und Modifikationen bei der meßtechnischen Ausführung der Grundwasseranalysen vorzunehmen. Im Ergebnis bekäme man so einen deutlich besseren Überblick über die aktuelle Grundwasserbelastung des Standorts und könnte gegebenenfalls auch Schadstofffrachten berechnen sowie fundierte Aussagen zur Belastung einzelner Teilbereiche treffen.

Weiterhin wird empfohlen, verschiedene Verdachtspunkte im Bereich der B-Anlage und der Füllstelle einer Untersuchung zu unterziehen.

Schließlich ist festzustellen, daß sich verschiedene Verdachtsmomente älterer Darstellungen im Laufe der HE nicht aufrecht erhalten ließen. So gibt es keinerlei Hinweise darauf, daß am Standort andere Kampfstoffe als Schwefel- und Stickstoffloste gehandhabt worden wären. Entsprechend ist nach Kenntnisstand nicht davon auszugehen, dass im Orgacid-Werk etwa Zählost oder Arsinöl verarbeitet worden ist. Die in den Medien immer wieder zirkulierenden 600 t Arsenmehl (Arsen(III)-oxid) wurden nach Aktenlage tatsächlich ca. 1945 nach Ammendorf verbracht. Allerdings ist es nach Einschätzung des Gutachters wenig wahrscheinlich, dass diese Menge am Standort verblieben ist bzw. dort unkontrolliert ausgebracht wurde. Wahrscheinlicher ist es, daß sie einer wirtschaftlich sinnvollen Verwendung zugeführt wurde, zumal es bisher keine Hinweise auf signifikante Arsenbelastungen am Standort gibt.

Ziel der HE war es insbesondere, die chemisch-technischen Prozesse der Orgacid stofflich und räumlich zu beschreiben, hieraus Prüfparameter für Folgeuntersuchungen abzuleiten sowie die Nutzung und Erkundung des Standortes nach 1945 kritisch zu beleuchten, um so eine tragfähige und möglichst vollständige Grundlage für die weitere Erkundung zu schaffen.

Diese Ziele wurden erreicht. Eine Gefährdungsabschätzung muß jedoch Gegenstand weiterführender Untersuchungen sein, deren Umsetzung gegenwärtig in Abstimmung zwischen den zuständigen Behörden der Stadt Halle/Saale und dem Land Sachsen-Anhalt ist.

Dr. Tobias Bausinger

Envilytix GmbH

Gutachter im Auftrag der Stadt Halle/Saale