UPDATE Sachsen-Anhalt mit Teilzeit-Parlament?

von 16. März 2010

Für heftige Aufregung hat ein Interview von Ministerpräsident Wolfgang Böhmer mit der DPA gesorgt. Darin hatte er ein Teilzeitparlament vorgeschlagen. Sachsen-Anhalts Landtagsabgeordnete sollen seinen Vorstellungen zufolge nicht mehr hauptberuflich Politiker sein, sondern ihrer normalen Tätigkeit nachgehen und für die Parlamentsarbeit jeweils freigestellt werden.

Die FDP-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt hat die Forderungen entschieden zurückgewiesen. „Mitglieder der Landesregierung, die auch Mitglied des Landtages sind, scheinen eine verdrehte Wahrnehmung von der Arbeit des Parlaments und der Parlamentarier zu haben. Auch wenn der Ministerpräsident seinem eigenen Mandat nicht die volle Arbeitskraft widmet, gilt dies noch lange nicht für die Mehrheit der Abgeordneten. Er hat der Landespolitik aber auch seiner eigenen nahezu zwanzigjährigen Abgeordnetentätigkeit einen Bärendienst erwiesen“, sagte FDP-Fraktionschef Wolpert, mit Blick auf Ministerpräsident Böhmer, der auch Landtagsabgeordneter ist. „Böhmer erweckt, schon lange den Eindruck, dass die Arbeit der Volksvertretung lästig und hinderlich ist. Anders kann man auch frühere Bezeichnungen wie „Kameraden im Landtag“ nicht aufnehmen. Im Jahr 20 nach der friedlichen Revolution ist diese Einstellung dem Parlament, der Volksvertretung gegenüber verheerend. Bei der Bewertung des Sachsen-Anhalt Monitors schmerzte Böhmer noch das geringe Vertrauen der Bürger in Landesregierung und Landtag. Mit den jetzigen Aussagen verstärkt er dieses Misstrauen“, so Wolpert. Gerade in einem Flächenland sei es nötig, dass Mitglieder des Landtags einen Überblick über die verschiedenen Problemsituationen der Bürger hätten. „Wir wollen nah bei den Menschen sein und die Probleme auch aufnehmen. Das geht aber nicht, wenn man zwei Tage im Monat für eine Plenarsitzung freigestellt wird. Die Bürger haben ein Recht auf professionell arbeitende Volksvertreter.“ Im Übrigen sei es ein Trugschluss zu glauben, ein Teilzeitparlament arbeite erheblich günstiger, da zu den Kosten des Mandates auch die Kosten der beruflichen Freistellung kommen würden. Wolpert bezeichnete es als richtig, auch Themen zu diskutieren, die nicht unmittelbar vom Landtag entschieden würden. „Viele bundespolitische Themen – wie die Kopfpauschale in der Krankenversicherung – haben erhebliche Auswirkungen auf die Menschen in unserem Land. Der Landtag ist also in der Pflicht, sich damit auseinander zusetzen. Die Landesregierung tut dies im Übrigen auch – richtigerweise!“

„Die Vision Ministerpräsident Böhmers zu einem Teilzeitparlament ist schlichtweg absurd. Schon der Bezug auf Hamburg oder Berlin führt in die Irre, schließlich befinden sich Stadtstaaten ganz real in einer anderen Situation als Flächenstaaten“, so der Vorsitzende der Fraktion „Die Linke“, Wulf Gallert. „Der Ministerpräsident sollte sich in Erinnerung rufen, dass die Abgeordneten des Landtages Politik zu gestalten und zu vermitteln und natürlich das Regierungshandeln zu kontrollieren haben. Es soll hier gar nicht unterstellt werden, dass diese Kontrollfunktion vielleicht zusammengestutzt werden soll – Fakt ist aber, dass gerade der Ministerpräsident immer wieder und äußerst beharrlich auf Defizite in der Politikvermittlung verwiesen hat“, so Gallert. „Zudem ist Ministerpräsident Böhmer doch eigentlich erfahren genug, um die Abläufe auch bis ins Detail hinein zu kennen. Vielleicht vermag er ja aus dieser Perspektive zu erklären, wie beispielsweise höchst zeitintensive auf arbeitsaufwendige Vorgänge wie die Beratungen zum Landeshaushalt von den Abgeordneten in Teilzeit zu realisieren sind. Im übrigen sollte Herr Böhmer dann schon konsequent sein. Wenn ihm ein Landtag in Teilzeit völlig ausreichend ist, warum wirbt er dann nicht auch für einen Halbtagsministerpräsidenten und eine Halbtagslandesregierung? Der Ministerpräsident sollte mit derlei eher populistischen Entäußerungen den Leuten keinen Sand in die Augen streuen – Demokratie bedarf nicht zuletzt eines gewissen Maßes an Geld, Zeit und Arbeitskraft. Auch das ist eine der Lehren der friedlichen Revolution vor 20 Jahren.“

"In Sachsen-Anhalt gibt es viele ungelöste Probleme", sagt die Grünen-Landesvorsitzende Claudia Dalbert. "Mit der höchsten Arbeitslosenzahl, der stärksten Abwanderer-Quote und dem höchsten Altersdurchschnitt ist unser Land bundesweit das Schlusslicht in vielen (über)lebenswichtigen Bereichen." Zu nennen seien weiter eine negative Bildungsbilanz und Kinderarmut. Und Sachsen-Anhalt habe gravierende Probleme mit dem Rechtsextremismus. Dalbert: "Statt eines Teilzeitparlaments brauchen wir LandespolitikerInnen, die
endlich die Ärmel hochkrempeln und die Probleme anpacken. Böhmer läuft Gefahr, Politikverdrossenheit zu fördern, wenn er den Eindruck vermittelt, Abgeordnete befassen sich mit Überflüssigem ", so Claudia Dalbert weiter. "Landespolitik ist keine Hobbyveranstaltung. Böhmer selbst müsste aus langjähriger Erfahrung im Landtag wissen, wie aufwändig und zeitintensiv Abstimmungen in Ausschüssen und Parlamentsbetrieb sind."

Umfassend die Reaktion von Landtagspräsident Dieter Steinecke: „Die Äußerungen von Ministerpräsident Prof. Böhmer, den Landtag in ein Teilzeitparlament umzuwandeln halte ich für falsch. Sie zeigen ein Parlamentsverständnis, das die Volksvertretung nicht ernst nimmt. Zu Ende gedacht würde dies in einem Flächenland wie Sachsen-Anhalt die Möglichkeiten politischer Partizipation klar beschneiden.

Die Landesverfassung weist dem Landtag und den Abgeordneten umfassende Aufgaben zu. So ist durch die Abgeordneten nicht nur über Gesetze zu beraten, sondern sind auch Tausende Petitionen der Bürgerinnen und Bürger zu behandeln und vor allem ist die Regierung zu kontrollieren. Und der Landtag soll letztlich alle Themen aufgreifen, die das Land betreffen und die Menschen bewegen. Er ist das politische Forum des Landes. In den Regionen des Landes sind die Abgeordneten unverzichtbare Anlaufpunkte, um das Gespräch der Bürgerinnen und Bürger mit den Abgeordneten zu ermöglichen und in Gang zu halten. Anders als in Hamburg oder Berlin vertreten die Abgeordneten in Sachsen-Anhalt teilweise Wahlkreise, die fast der Fläche des Saarlandes entsprechen. Eine bürgernahe Betreuung dieser Gebiete können die Volksvertreter nicht als Teilzeittätigkeit sicherstellen. Anders als in Stadtstaaten wie Berlin oder Hamburg garantieren in Sachsen-Anhalt nur engagierte Vollzeitpolitiker dauerhaft eine bürgernahe und professionelle Politik

Im Übrigen sind mit den Föderalismusreformen 1 und 2, denen MP Böhmer im Bundesrat zugestimmt hat, durch den Bund zusätzliche Gesetzgebungskompetenzen auf die Landesparlamente übertragen worden.

Folgerichtig geben Landtagsabgeordnete aus Sachsen-Anhalt bei unabhängigen wissenschaftlichen Befragungen (2. Deutsche Abgeordnetenbefragung des Sonderforschungsbereichs 580; 2007) an, in Sitzungswochen etwa 55 und außerhalb von Sitzungswochen etwa 50 Wochenstunden für die Ausübung des Abgeordnetenberufs investieren zu müssen.

Ebenso folgerichtig haben alle Flächenländer der Bundesrepublik Deutschland Vollzeitparlamente. Auch der Landtag Baden-Württemberg, der bislang versuchte, alle ihm übertragenen Aufgaben als Teilzeitparlament zu erledigen, hat 2008 beschlossen, den Landtag im Jahre 2011 zum Vollzeitparlament zu überführen. Parlamente wie die der deutschen Stadtstaaten können nicht ernsthaft als Referenzbeispiele für ein Land herangezogen werden. Hier sind die Arbeitsbedingungen grundsätzlich anders und sind als Vergleichsmöglichkeit ungeeignet.

Wer angesichts dieser Datenlage dennoch für Sachsen-Anhalt den Übergang zum Teilzeitparlamentarismus vorschlägt, muss klar stellen, welche Parlamentsfunktionen und Abgeordnetenaufgaben künftig nicht mehr in vollem Umfang wahrgenommen werden sollen.

Persönlich halte ich auch den Zeitpunkt der Diskussion für fatal. Vor fast genau 20 Jahren wurde in der DDR erstmals ein freies Parlament gewählt, im Herbst 1990 erstmals der Landtag von Sachsen-Anhalt – und in genau einem Jahr wählen wir wieder ein neues Landesparlament. Vor dem Hintergrund dieser Jahreszahlen sollten wir jetzt nicht darüber sprechen, wie wir demokratische Institutionen herunterfahren können. Gerade vor dem Hintergrund der geringen Wahlbeteiligungen in den letzten Jahren, sollten wir uns vielmehr überlegen, wie wir die schweigende Mehrheit der Menschen im Land wieder stärker für demokratische Beteiligung und die Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte begeistern können.“

Zu den Gedankenspielen des Ministerpräsidenten erklärt Katrin Budde, Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion: „Die Äußerungen des Ministerpräsidenten zeigen, wie nötig ein Vollzeitparlament in Sachsen-Anhalt ist. Ich darf daran erinnern, dass wir in einer parlamentarischen Demokratie leben, in der es eine der wichtigsten Aufgaben des Parlaments ist, die Regierung zu kontrollieren. Dazu ist auch in Sachsen-Anhalt ein vollwertiger Landtag notwendig. Immerhin steht ihm eine mehrtausendköpfige Ministerialbürokratie gegenüber. Ein Teilzeitlandtag hätte hier überhaupt keine Chance mehr, eine wirksame Kontrolle auszuüben. Zu einer funktionierenden Demokratie gehört im Übrigen nicht nur die Arbeit im Parlament, sondern auch die Präsenz der Abgeordneten vor Ort. Der Kontakt zu und das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort sind unerlässlich, wenn das Parlament in Kenntnis der realen Probleme entscheiden will. Ein Teilzeitparlament würde in einem Flächenland wie Sachsen-Anhalt zur reinen Abnickrunde für Regierungsvorlagen degradiert. Das hätte mit Demokratie nicht mehr viel zu tun. Im Übrigen verwundert es mich sehr, dass der Ministerpräsident dem Parlament das Recht abspricht, über allgemeinpolitische Fragen zu diskutieren. Das Parlament ist dem Wohl der Menschen in Sachsen-Anhalt verpflichtet. Natürlich bedarf es einer öffentlichen Debatte über Themen, die der Ministerpräsident ansonsten in den verschwiegenen Ausschüssen des Bundesrates ohne den Landtag entscheidet, die aber erhebliche Auswirkungen auf die Menschen in Sachsen-Anhalt haben. Wir werden genau hinschauen, wenn es um unsoziale Entscheidungen zu Lasten des Landes geht. Die Kopfpauschale ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Im Übrigen ist es tragisch, dass der Ministerpräsident mit seinen Äußerungen einen substantiellen Beitrag zur Politikverdrossenheit geleistet hat. Das ist ein Bärendienst für das demokratische System in Sachsen-Anhalt. Ich finde, hier sollte der Landtagsabgeordnete Böhmer dem Ministerpräsidenten Böhmer mal kräftig die Leviten lesen!“
(Update 20.45 Uhr)