Verrücktes aus dem Herbst 1989

von 2. November 2009

"Irre Zeiten" hatten hallesche Psychiater ihren Wettbewerb genannt. Sie suchten verrückte Geschichten aus dem Herbst 89. Am Samstag hat HalleForum.de bereits über die Sieger berichtet (hier klicken).

An dieser Stelle möchten wir eine Auswahl der eingesandten Geschichten vorstellen. Diese wurden am Samstag von Peter Jeschke und Reinhard Straube im Volkspark in Halle (Saale) präsentiert.

Wolfgang Rüb erzählte uns in seiner Geschichte „freier Unternehmer“ über einen wunderbaren und schließlich missglückten Versuch einer Unternehmensgründung nach der Wende. Die Idee, Schuhe verschiedener Schuhgröße in Paaren für Leute mit verschieden großen Füßen zu verkaufen misslang offensichtlich – eine witzige Geschichte über einen verrückten Einfall mit voraussehbaren Ergebnis.Seine Geschichte fängt so an:
Zitat:
Seit meine Frau ein kurzes und ein langes Bein hat, ist sie eben stärker auf ihre Schuhe konzentriert…. links trägt sie die 36, rechts die 38, und also bleiben jeweils zwei Schuhe übrig, links die 38, rechts die 36 …

Erich Krause schickte uns Reime, auf die wir uns zunächst zum Thema keinen Reim machen konnten
Zitat:
Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann frag ich mich,
was der Deutsche nun so macht…
Die Psychosen nehmen zu,
dem Bürger verpasst man kleinere Schuh

Bernd Dübener freute sich in seinem Text über die neugewonnene Reisefreiheit – er beschließt seinen Text Wendezeit – Reisezeit mit den schönen Worten:
Zitat
Ich schenkte meiner Frau ein Buch, in welchem wir unsere Reiseerlebnisse seither festhalten. Auf die erste Seite schrieb ich den folgenden Text:
1989 war die Mauer fort,
offen stand uns jeder Ort.
Wir wollen diese Freiheit nutzen und bewahren,
jedes Jahr in Urlaub fahren.

Birgit Leibrich von „ Aktiv im Ruhestand“ schickte uns eine schöne Geschichte :“ Ich wurde umgeschult-oder die Zeiten der Wirren“ – die ehemalige Arbeiterin aus dem Buna-Werk beschreibt die Schwierigkeiten der Arbeitslosigkeit und ihrer beruflichen Umschulung,
Zitat:
Oskar hatte es schwer getroffen – er war 50 Jahre, hatte als Ingenieur in der Mafa gearbeitet und war abgewickelt worden, während sein Chef noch da saß, wie das überall war.
Das erste Fach was wir hatten, war Moderation und Präsentation. Wir begannen wieder die üblichen Rollenspiele, paarweise mussten wir uns setzen, so dass jeder sein Gegenüber interviewen konnte. Also ging's los
Herr Oskar, was ist Ihr persönliches Glück?
Lassen wir das weg
Welches ist der größte Erfolg?
Lassen wir das weg.
Wo sehen Sie auch größten Fähigkeiten?
In der Musik.
Was ist ihr Motto?
Nimms leicht!
Warum sitzen Sie hier?
Das frage ich mich jeden Tag!
Was wird Ihr wichtigstes Ergebnis der Umschulung sein?
Ich bin zwei Jahre älter geworden.

Margarete Wein schreibt über ihrem ersten Besuch nach der Maueröffnung im Westen einen Text über das Thema " Was tun in West-Berlin? "Sie endet etwas melancholisch:
Zitat:
… auch Clara und ihr Sohn spähten durch ein Mauerloch von West nach Ost. Am Nachmittag waren keine Südfrüchte mehr zu haben. So kauften sie schließlich gar nichts. Sie gingen weder ins Kino noch in den Zoo, nicht mal am Kudamm in ein Café. Trotz Hunger und Müdigkeit glücklich, kamen sie abends am Bahnhof Lichtenberg an. Und wunderten sich, wie viele Mitreisende das gute Westgeld für Büchsen Bier ausgegeben hatten…“

Annerose Runde erinnerte sich an die Mauerkerzen oder an die Kerzenmauer vor der Georgen-Kirche und an die Autofahrer, die mutig lustig die Leute von der Mahnwache mit ihrem Hupen grüßten, ein Hup-Verbotsschild und Polizeiwache brachten Ruhe – und Annerose Runde fragt in der Überschrift ihres Artikels Muss Ordnung sein?“

Zitat
„ Aber…Trabbis knatterten wie im Trauerzug an der Glauchakirche vorbei – … ich war stolz darauf, dass wenigstens mein Trabbi einen leisen Hupton von sich gab“

Anika Hron: Wie auch andere Autorinnen und Autoren schrieb sie eine Geschichte über die erste Reise nach dem Westen – sie erzählt dabei allerdings von den Eindrücken ihrer Mutter, deren Vater die Familie im Osten verlassen hatte, um ihr aus dem Westen gutes zukommen zu lassen, selbst dort aber unter Armut litt. Die Geschichte beschreibt das erste Wiedersehen von Tochter und Vater – „Der Knopf““ist eine sehr rührende und der persönliche Erinnerung an den Herbst 1989.
Zitat:
… die Straßen waren voll mit Trabbis und Wartburgs..Sieben Stunden später kamen wir in Wiesbaden an. Nachdem wir endlich dieses Asyl für DDR Flüchtlinge fanden, klopfte ich an der Tür. Was ich sah, kann ich kaum in Worte fassen.
Ich sah einen alten Mann, blass, dünn und mit nur einem Knopf am Schlafanzug stand er da

P. Brode vom Böllberger Weg nannte sich Nante und schickte uns ein kurzer, aber schöne Geschichte darüber, wie er als NVA-Soldat die Wende erlebte:
Zitat:
Es gab viele, die einen Polizisten nicht von einem Armisten in Ausgangsuniform unterscheiden konnten. Ich konnte mir es nicht aussuchen – in dem Moment. Ich war gern mal zuhause, Kind sehen, Frau sehen usw. Aber die Klamotten. Viel Zeit hatte ich auch nicht, „Wir sind das Volk!“ zu brüllen, ich musste meinen Zug schaffen, damit ich pünktlich die DDR verteidigen konnte.
Als dann im Radio erzählt wurde, dass die Leute auf der Mauer sitzen, saß ich mit einem Sprutzenbecher voll Weinbrand beim Briefe schreiben in der Bude allein…

Peter Winzer schrieb eine kleine Chronik des Herbstes 1989 und beginnt mit den Worten, das war am Anfang gar nicht lustig. Er schildert die Ereignisse in beschreibt am Schluss der Geschichte ein schönes Bild:
Zitat:
…ich rannte nach vorn. Vor dem Parteigebäude stand eine uniformierte Riege Herren der DDR-Kampfgruppen und sicherte den Eingang des „Café Böhme“.
Am Straßenrand war ein Polizeimotorrad geparkt, auf dessen Sitzbank Kerzen brannten. Der Polizist stand einige Meter weg und sah zu. Und das Schönste war, niemand von den Demonstranten pöbelte herrum oder provozierte die zahlenmäßig weit unterlegenen Ordnungshüter…
Christoph Kuhn schickte uns eine beeindruckende Geschichte, die über die Reflektionen eines jungen Mannes berichtet, der nach der Wende Zeuge eines Ausbruchversuches aus einem Gefängnis wird, in dem er selbst in der DDR Häftling war
Zitat:
Auf keinen Fall würde er die Person verraten – obwohl hier inzwischen bestimmt keine Unschuldigen mehr einsitzen. Allerdings hatte er von Abschiebehaft gehört und von Beugehaft für Leute, die Bußgeldzahlungen verweigerten.
Sein Delikt damals hatte darin bestanden, dass der knapp sechzehnjährig, handgeschriebene Flugblätter im Wald an Bäume hängte. Weg mit der Mauer! Nieder mit Ulbricht! Wir wollen Freiheit!

Ingrid Stockmann schildert in ihrem Text „Genießen in vollen Zügen“ ebenfalls ihre erste Reise in den Westen, noch vor der Maueröffnung und eine lange Familiengeschichte von über 40 Jahren, die diese Reise so zum besonderen Erlebnis werden ließ. Sie beschließt die Erzählung mit der Schilderung über die Reiseumstände nach der Mauer Öffnung.

Zitat:
Je weiter sich der Zug der Grenze näherte, umso voller wurde er. Leute über Leute bildeten Klumpen und verstopften dann zuletzt gänzlich die Gänge, einige brachten ihre Körper auf der engen Zugtoilette besser in Sicherheit.
Auf dem Boden des kleinen Örtchen standen vier ganze Erwachsene, auf dem Toilettenbecken selbst saß eine hochschwangere Frau und hinter ihr thronte stehend offenbar der künftige, glückliche Vater…..Er war ein lustiger Kauz und rief laut und vernehmbar aus der Toilette raus: „Das Leben genießen in vollen Zügen“

Wolfgang Schuster beschreibt in seiner Geschichte „Das Elefantenklo und der Stuhlgang“, wie er kurz vor der Wende mit seinem Auto in die Protokollstrecke der Partei-und Staatsführung eindrang und einer staatlichen Verfolgung nur dadurch erging, dass er verwies auf die höhere Gewalt eines natürlichen inneren Druckes wegen Darmkrämpfen, die ihn vorübergehend daran hinderten, den Anweisungen der absperrenden Staatsmacht zu folgen. Schuster beschreibt seine aus heutiger Sicht sehr erheiternden Bemühungen, einer Strafverfolgung als Ordnungsstörer zu entgehen, wobei auf en Wandel seiner Argumentation innerhalb von 2 kurzen Monaten zu achten ist:

Zitat:

Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei an Wolfgang Schuster:

„Sie verletzten am 14.9. 1989 zweifelsfrei schuldhaft im Sinne des §9, Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten (OWG) die Bestimmungen der §§ 6, Abs. 1 und 1, Abs. 4 der StVO, indem sie das Verkehrszeichen Bild 201 der Anlage 2 der StVO und die mündlich erhobene Forderung der Angehörigen der Deutschen Volkspolizei bewusst missachteten und einen gesperrten Straßenabschnitt befuhren.“

Schuster dazu in seiner Stellungnahme am 19. September 89

„Ich habe über meine Handlungsweise gründlich nachgedacht und muss eingestehen, dass auch meine großen Schmerzen letztlich keine Rechtfertigung für die Fahrt durch die gesperrte Talstraße darstellen. Ich werde in Zukunft anders handeln.“

Schuster zwei Monate später am 17.11. 89 in einer Eingabe zur Ordnungsstrafverfügung 55:

„Wie ich erfuhr, raste die Kolonne der Staatsführung mit stark überhöhter Geschwindigkeit durch die Talstraße, entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung!…
Ich halte es für einen unzumutbaren Zustand, dass bei Durchfahrt von Mitgliedern von Partei und Regierung derartige verkehrsorganisatorische Sondermaßnahmen festgelegt werden. Es hat sich jetzt gezeigt, dass diese Personen ihre Kompetenzen unter Bruch von Gesetzen weit überschritten haben.“