Viele Fragen von Bürgern zum Orgacid-Werke bleiben offen

von 20. September 2018

Grundsätzlich wird nur bei direktem Kontakt mit kontaminierten Gebäuderesten im Untergrund eine Gefährdung gesehen. Dagegen bleiben viele Fragen der Bürger vor Ort unbeantwortet. „Liegt aktuell eine Belastung des Grundwassers und Beeinträchtigung der Brunnenwasserqualität auf Privatgrundstücken in der Umgebung vor? Welche Spätfolgen sind aufgrund von Materialermüdung denkbar?”, fasst Keindorf die Fragen von Anwohnern zusammen und sucht nach Antworten, etwa im Landesarchiv.

Nach Sichtung der dortigen Unterlagen und der Antwort des Umweltministeriums ist klar, dass in den 1990er Jahren Untersuchungen zu unterirdischen Bauwerken durchgeführt wurden, jedoch nur auf Teilen des Geländes. Gutachten aus der Zeit legen dar, dass der Untergrund des Orgacid-Geländes mit Zersetzungsprodukten von Lost, giftigen Schwermetallen, Blei und anderen chemischen Substanzen belastet ist. In einem Fall werden Spuren von Schwefel-Lost in Bauteilen nachgewiesen. Messungen kommen zu dem Ergebnis, dass die Konservierung von Kampfmittelstoffen in Gebäudefundamenten nicht ausgeschlossen werden kann. Zu der Frage, inwieweit sich unter den ermittelten Substanzen Arsen befindet, existieren widersprüchliche Angaben in den Akten.

In gemeinsamer Verantwortung der Stadt Halle und dem Land wurden nach der Erkundung in den 1990er Jahren Aufschüttungen aus den 1960er Jahren auf einem Teil des Geländes vervollständigt und zusätzliche Aufschüttungen veranlasst. Mit der Versiegelung eines Teils der Fläche verbunden war auch die Annahme, dass durch chemische Prozesse mögliche Lost-Rückstände mit der Zeit neutralisiert und unwirksam werden. Über Mess-Kontrollen und aktive Maßnahmen zur Dekontamination nach der Versiegelung macht das Umweltministerium keine Angaben. Augenscheinlich erfolgt die Grundwassersanierung auf einem Teil des Geländes. „Es wäre wünschenswert, dass die Verantwortlichen in Stadt und Land zumindest Klarheit über die aktuelle Qualität des Grundwassers schaffen“, so Keindorf abschließend.

Orgacid-Werkspläne

Die kleine Anfrage und dieAntwort der Landesregierung liegt der Redaktion vor und wir möchten diese den Lesern nicht vorenthalten. Hier die Fragen und Antworten im einzelnen.

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Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung

Abgeordneter Thomas Keindorf (CDU)

Orgacid GmbH – Stand der Forschung und Gefahrenabwehr

Kleine Anfrage – KA 7/1911

Vorbemerkung des Fragestellenden:

Das Areal der ehemaligen Orgacid GmbH im Stadtgebiet Halle – Produktionsstätte des Kampfmittelstoffes Lost (Dichlordiethylsulfid bzw. „Senfgas“) während der Zeit der NS-Diktatur in Deutschland – gilt auch unter Fachexperten als nicht umfangreich erforscht. Fehlende Informationen über Baupläne, Bodenkontaminationen, Gutachtenanalysen sowie Sicherungs- und Sanierungsmaßnahmen nach 1990 verunsichern bis zum heutigen Tag u. a. Anwohner in unmittelbarer Nachbarschaft. Dabei äußern Bürger nach wie vor auch Befürchtungen über eine mögliche Grundwasserbelastung auf angrenzenden Privatgrundstücken und Geruchsbelästigungen bei großer Hitze.

Antwort der Landesregierung erstellt vom Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft und Energie

Vorbemerkung der Landesregierung:

Die Fragen der vorliegenden Kleinen Anfrage überschneiden sich teilweise mit der aktuell veröffentlichten Antwort auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Andreas Schmidt (SPD) „Mögliche umwelt- und gesundheitsgefährdende Stoffe auf dem Gelände der ehemaligen ORGACID GmbH in Halle“ (Drs. 7/3259) vom 20.08.2018 einschließlich deren Anlagen 1 (Bundestagsdrucksache 13/2733 vom 24.10.1995) und 2 (Auszug aus dem 1. Umweltbericht der Stadt Halle (Saale)).

1. In welchem Umfang wurde das Gelände inkl. Umfeld bei der Suche nach Produktions- und Lagerstätten, Versorgungsleitungen sowie Spuren chemischer Stoffe nach 1990 tiefgehend und systematisch erforscht? Inwieweit sind die Standorte der einzelnen Anlagen und Versorgungsleitungen bekannt?

Auf dem ehemaligen Gelände der Orgacid GmbH wurden seit 1990 folgende Untersuchungen veranlasst:

  • Multitemporale Luftbildauswertung,

  • Geophysikalische Untersuchungen zur Suche unterirdischer Bauwerke, Fundamente und anderer Anomalien,

  • Gezielte Untersuchungen der Umgebungsluft und des Grundwasserabstroms,

  • Hydrogeologisches Gutachten für das ehemalige Fabrikgelände und das umliegende Territorium,

  • Untersuchung der Bodenkontaminationen,

  • Erstellung einer Gefährdungsabschätzung,

  • Dokumentation zu den geologisch-hydrogeologischen und bergbaulichen Verhältnissen zum Projekt NBS Erfurt-Leipzig/Halle, Trassenvarianten 1D und 1E, Bergbaugebiet S von Halle (15.07.1994),

  • Gefährdungsabschätzung (1993),

  • Bautechnische Planungsdokumentation zur Sicherung des Bunkerbereiches im Orgacid-Gelände (30.05.1994).

Es wurden u. a. der Bereich zur Lagerung und Produktion von Ausgangsstoffen, der Lost-Produktionsbereich und der Bereich der Bunker zur Lagerung von Lost-Produkten identifiziert. Detailliertere Angaben zu den ehemaligen Standorten der einzelnen Anlagen und Versorgungsleitungen, die ggf. den bei der Stadt Halle (Saale) vorliegenden Gutachten entnommen werden können, sind der Landesregierung nicht bekannt.

2. Zu welchen Ergebnissen kommen sämtliche erstellte Gutachten nach 1990 hinsichtlich Statik, Umweltbelastung und Gefährdungen für Menschen? Welche Maßnahmen zur Sicherung und Sanierung werden befürwortet?

Die Gutachten kommen zu dem Ergebnis, dass eine Gefährdung durch chemische Kampfstoffe für das Grundwasser und die Luft auszuschließen ist. Es besteht keine Gefahr für die Bevölkerung. Die einzige Gefährdungsmöglichkeit für Menschen wird bei Grabungsarbeiten für die damit beschäftigten Personen durch direkten Kontakt mit freigelegten kontaminierten Gebäuderesten gesehen. Die Produktionsanlagen wurden nach Kriegsende demontiert bzw. gesprengt. Seit den 1960er Jahren erfolgte eine Erdabdeckung des ehemaligen Produktionsbereichs. Die abgeleiteten Sicherungs- sowie Schutz- und Beschränkungsmaßnahmen
sind dem 1. Umweltbericht der Stadt Halle aus dem Jahr 1993 zu entnehmen (siehe Anlage 2 zu Drs. 7/3259). Der Begriff Sanierung umfasst gemäß § 2 Absatz 7 Bundes-Bodenschutzgesetz auch Sicherungsmaßnahmen.

3. Welche Sicherungs- und Sanierungsmaßnahmen wurden bisher, werden aktuell und sollen in Zukunft in wessen Verantwortung durchgeführt werden?

Die durchgeführten Sicherungs- sowie Schutz- und Beschränkungsmaßnahmen sind der Antwort zu Frage 9 auf die Kleine Anfrage „Mögliche umwelt- und gesundheitsgefährdende Stoffe auf dem Gelände der ehemaligen ORGACID GmbH in Halle“ (Drs. 7/3259) zu entnehmen. Das ehemalige Orgacid-Gelände ist gegen unbefugtes Betreten gesichert. Die Sicherungs- sowie Schutz- und Beschränkungsmaßnahmen sind durch die Eigentümer aufrecht zu erhalten. Weitere Maßnahmen sind nicht geplant.

4. Inwieweit werden regelmäßig Messungen und Kontrollen in wessen Verantwortung durchgeführt? Welche Ergebnisse erbringen die Kontrollen hinsichtlich einer möglichen Umweltbelastung und Gefährdung des Menschen (inkl. Austritt von chemischen Stoffen und Bodenbewegungen)?

Auf dem Gelände werden keine regelmäßigen Messungen durchgeführt. Es erfolgen regelmäßige Kontrollen hinsichtlich der Sicherungs- sowie Schutz- und Beschränkungsmaßnahmen im Bereich der Bunker durch den Eigentümer. Der Stadt Halle (Saale) liegen keine Erkenntnisse oder Hinweise zu von dem ehemaligen Orgacid-Gelände ausgehenden Umweltbelastungen und Gefährdungen oder Bodenbewegungen auf dem Standort vor.

5. Sind sämtliche Erkenntnisse seit 1990 der Öffentlichkeit zugänglich?

Die Öffentlichkeit wurde durch den 1. Umweltbericht der Stadt Halle 1993 informiert (siehe Anlage 2 zu Drs. 7/3259). Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, vorliegende Unterlagen bei den zuständigen Behörden einzusehen.

6. Können Gesundheits- und Umweltbelastungen ohne jeden Zweifel gegenwärtig und in Zukunft ausgeschlossen werden?

Nach derzeitigem Kenntnisstand kann auf der Grundlage der vorhandenen Unterlagen und der durchgeführten Sicherungs- sowie Schutz- und Beschränkungsmaßnahmen festgestellt werden, dass bei der gegenwärtigen Nutzung von Teilen des Geländes als Industrie- und Gewerbegrundstück von den Grundstücken der ehemaligen chemischen Fabrik Orgacid keine Gefahr für die Schutzgüter ausgeht. Siehe dazu auch Antwort zu Frage 2 sowie die Bundestagsdrucksache 13/2733, Seite 19 (siehe Anlage 1 zu Drs. 7/3259).

7. Wenn nein, welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung zur Erforschung des Geländes und langfristigen Gefahrenabwehr für Menschen und Umwelt?

Entfällt, siehe Antwort zu Frage 6.

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Primärquellen

Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Akten L22, Nr. 49, Nr. 50 und Nr. 51., Einsicht am 6.9.2018.

Landtag Sachsen-Anhalt, Drucksache 7/3354 vom 14.09.2018 und 7/3259 vom 20.08.2018.

Deutscher Bundestag, Drucksache 13/2733 vom 24.10.1995.

Preuss, Johannes: The Reconstruction of Production and Storage Sites for Chemical Warfare Agents and Weapons from Both World Wars in the Context of Assessing Former Munitions Sites, The Ammendorf Factory of Orgacid GmbH in: Bretislav Friedrich et al. (Hrsg.): One Hundred Years of Chemical Warfare: Research, Deployment, Consequences. Springer Open, 2017.

Gadde, Erich: Orgacid – Das giftige Geheimnis am Standort Ammendorf, in: Stadermann Johannes: Au(g)enblicke Band 3/1, Halle 2016.

Ökologische Zeitbombe unter Ammendorf?, in: Treffpunkt Stadtteil Ausgabe Halle-Süd, Juli 2018.

Reichert, Steffen: Sitzt die Stadt Halle seit mehr als vier Jahrzehnten auf einem „Pulverfaߓ?, in: Mitteldeutsche Zeitung vom 16.3.1991.

Zeitzeugen-Gespräche August/September 2018.