Zwischen Ignoranz und Verständnis

von 29. September 2015

Zu beantworten ist die Frage: „Flüchtlingsdebatte, Pegida und Ukrainekonflikt – verlieren die Leitmedien mehr und mehr an Glaubwürdigkeit?“ Im Podium diskutieren dazu Heiko Hilker, MDR-Rundfunkrat und Direktor DIMBB (Dresdner Institut Medien Bildung und Beratung), Stefan Raue, trimedialer Chefredakteur und Leiter des Programmbereich Aktuelles/Zeitgeschehen beim mdr Fernsehen, Hartmut Augustin, Chefredakteur der Mitteldeutschen Zeitung, Dr. Hans-Joachim Maaz, Psychoanalytiker, Publizist und Autor, zudem Vorstandsvorsitzender der „Hans-Joachim Maaz – Stiftung Beziehungskultur“ und Caspar Clemens Mierau, politischer Blogger. Nikola Marquardt, Mitherausgeberin des „Meinungsbarometer Digitaler Rundfunk“, moderierte die Veranstaltung.

Im Eingangsstatement heißt es, dass die Menschen in Dresden auf die Straße gehen mit Sorgen, Unbehagen und der Vokabel „Lügenpresse“. Doch das werde ja wohl niemand den Medien unterstellen, dass sie Sachverhalte bewusst verzerren. Tatsächlich würden wohl Sachverhalte und Schwingungen so wiedergegeben, dass bei den Bürgern der Eindruck entstehe, Entscheidendes werde weggelassen. Das sei für die Medien nicht minder problematisch. Parallelwelten entstünden, wo das, was die Medien berichten, mit dem Erleben der Bürger nicht viel zu tun hat.

„Das muss ich mir nicht alles antun“

Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Flüchtlingsstroms nach Deutschland erklärt Nikola Marquardt, viele würden gerade hinterfragen, ob in den Medien das Bild zu sehen ist, was da gerade passiert. Von Stefan Raue wollte sie wissen, ob er die Leserkommentare liest. „Wenn es mich interessiert.“ Themen, die emotionalisieren, zögen Leute an, die hetzen. „Das muss ich mir nicht alles antun.“ Er teilt die Begeisterung über die neue Öffentlichkeit dank Internet nicht. MZ-Chefredakteur Hartmut Augustin sieht das ganz anders: „Leserbriefe sind ein Stimmungsbarometer.“ Er will wissen, was die Leser denken. Als die noch Briefe schickten, war davon nicht so viel zu erfahren wie jetzt, weil so wenige Briefe kamen. Putin, Pegida, Flüchtlinge – bei den Themen werde viele gepöbelt, auch würden Mitarbeiter bedroht. „Wir veröffentlichen das nicht, weil das uns nicht weiterbringt.“ Kritische Stimmen, so Augustin, greift er hingegen gerne auf.

„Der Stammtisch verlagert sich ins Netz. Kritische Fakten sehe ich nicht“, so Heiko Hilker. Da erscheint, was sonst nicht sichtbar ist, meint Hans-Joachim Maaz. Konflikte, Probleme – das sei mitunter schwer auszuhalten, was da so kommt, aber das seien seelische Prozesse. „Ich wünsche mir eine größere Analyse dieser Stimmen.“ Junge Leute seien heute bei Facebook und mehr noch bei Youtube zu finden und nicht bei den klassischen Medien. Wenn 50 Prozent der Menschen nicht zur Wahl gehen, sei es bedenklich, das zu ignorieren. „Ich will wissen, warum.“ In den Kommentaren werde das sichtbar. Raue bleibt dabei: „Stresskommentare“ will er ignorieren. „Beleidigungen schmeiße ich weg oder ignoriere das. Verbale Keulen muss man sich nicht antun.“ Das Problem sei die Anonymität auf der einen Seite (Leser) und die Personalität auf der anderen Seite (Journalisten mit Namen und Gesichtern). Von Angesicht zu Angesicht würde, ist Raue überzeugt, mehr Konstruktives herauskommen. Im Netz gebe es einen Emotionshandel, der nicht repräsentativ sei, denn organisierte Öffentlichkeiten besetzten die Chaträume. „Wir haben leider keine fairen Bedingungen.“

Caspar Clemens Mierau beschreibt, wie sich seine Sicht auf den Umgang mit Kommentaren geändert hat. Die Frage werde schon länger diskutiert: Soll man jedem eine Stimme geben oder sagen, nicht auf meiner Seite, denn jeder kann ja selbst aktiv werden im Internet. Mierau hat sich inzwischen für letzteres entschieden. Eine Möglichkeit sei auch, Kommentare zuzulassen, die man als Seitenbetreiber zwar lesen kann, die aber für die übrige Leserschaft ausgeblendet bleiben.

„Umstritten“ ist nicht bewiesen

63 Prozent der Menschen haben in Medienberichte zur Ukraine-Krise wenig oder gar kein Vertrauen, nennt Marquardt ein Umfrageergebnis.„Es gibt einen Mainstreamjournalismus“, fängt Maaz seine Antwort an. Es zählten Auflagehöhen und Einschaltquoten. Beim Thema VW werde alles mögliche diskutiert. Was niemand frage: „Woher kommt die kriminelle Energie?“ Maaz erklärt, dass sie dem System innewohnt. Problematische Unschärfen macht er auch bei Begriffen aus, zum Beispiel bei der „Herdprämie“. Der Begriff sei rassistisch, weil er Mütter auf die Hausfrauenrollen reduziere. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu all den offenen Fragen würden nicht genutzt, kritisierte er. Hilker wehrt sich gegen Pauschalurteile: Es gibt nicht die Medien. Bei der Willens- und Meinungsäußerung gebe es auf der einen Seite mächtige Medienhäuser, auf der anderen Seite engagierte Leute. Hilker machte an Beispielen klar, wie wichtig es ist, zu differenzieren. So sei es eine unbewiesene Behauptung, wenn im Falle des iranischen Atomprogrammes vielfach erklärt wurde, das Programm sei „umstritten“. Wer sagt das und wer sieht das anders? Beispiel Pegida. Ist das ein ostdeutsches, ein sächsisches oder ein Dresdner Problem? Im Falle des aktuellen Flüchtlingsthemas seien Medien die Gehilfen von ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe und Regierungspolitik. Augustin widerspricht der These, dass es eine Abkehr von den etablierten Medien gibt. Jeder zweite im Verbreitungsgebiet lese die MZ. Die Zahl der Nutzer des MZ-Internetangebots wachse. Raue wehrt sich gegen den Quotenvorwurf. „Wir greifen auch Themen auf, die keine Quote haben.“ Man brauche für Themen Zeit. Doch er bekennt auch: Ja, es gibt einen Herdentrieb der Medien. „Wir rennen den Regierungsthemen viel zu oft hinterher aus Angst vor der Konkurrenz.“ Dabei gerieten kleine Dinge mitunter zu groß und große zu klein. Die Branche beobachte sich und reagiere schnell.

Marquardt kommt auf die Flüchtlinge zu sprechen. Leute hätten das Gefühl, dass sie überall dieselben Bilder und Texte sehen. Die Spaltung zwischen Helfern und Hetzern, so Maaz, führt zur Spaltung der Gesellschaft. Dabei seien die beiden Gruppen (Helfer und Hetzer) sehr klein. Er halte es für sehr gefährlich, wenn bei der Ankunft der Flüchtlinge am Bahnhof geklatscht und Schokoladen verteilt werde. Die Mehrheit der Bevölkerung sei in Sorge und das zu Recht. Diese Leute in die rechte Ecke zu stellen, sei sehr problematisch. Warum gebe es keine Analyse der Ursachen? „Wir reden nicht mir Orban.“ (Regierungschef in Ungarn) Das gehe nicht. Er sei der demokratisch gewählte Chef eines EU-Staates. „Das schaffen wir“ sei eine sehr bedenkliche Phrase, denn: „Wie ist das zu schaffen?“ Warum gebe es kein Geld gegen die Fluchtursachen. Maaz erwähnt den Kampf zwischen Armen und Reichen. Deutschland sei mit verantwortlich für die Armut, die ungleiche Verteilung.

„Es gibt berechtigte Sorgen, aber auch völlig irrationale Ängste“

„Die Medien schielen nach Aufmerksamkeit“, setzt Hilker seine Kritik fort. Die Formate sind zu kurz (klassisch haben Fernseh- und Radiobeiträge im Nachrichtenformat eine Sendelänge von 1:30 Minuten). Die Tagesschau sei nach wie vor 15 Minuten lang (1952 erstmals ausgestrahlt, seit 1960 quasi im heutigen Format). Die Medien ließen Informationen aus. Raue hält dagegen: Erst jüngst habe man beschlossen, jeden Tag einem Schwerpunktthema bei den Tagesthemen mehr Zeit zu widmen.Oft bestehe das Problem des richtigen Tempos. Raue kommt auf Pegida zurück: „Pegida – das ist kein Dialog, sondern Rassismus.“ Die Kollegen könnten zwischen besorgten Bürgern und Pöblern unterscheiden. Augustin wirbt erneut für die MZ und erklärt, dass sich seine Zeitung statt auf allgemeine Sorgen einzugehen, vor Ort umschaut. „Es gibt berechtigte Sorgen, aber auch völlig irrationale Ängste.“ Maaz kommt auf VW und seine Sicht auf den Kapitalismus zurück: Der Betrug mit allen Mittel ist systemimmanent. Dann springt er in die Weltpolitik: Die USA haben im Irak alles durcheinander gebracht. Nun gebe es da Millionen leidende Menschen. Die Medien seien aufgerufen, die Fragen rechtzeitig zu stellen. Raue springt der US-Politik bei und sagt, dass es viele Fluchtgründe gibt. „Diktaturen unter anderem.“

Was unter anderem das Vertrauen in die Leitmedien erschüttert und das Interesse an deren Berichten gemindert hat, erklärt Mierau anhand einer Fußballberichterstattung so: Zur Primetime (also zur Hauptsendezeit) wird in Tagesschau und Sportschau nichts dazu gesagt, aber das Internet ist voll davon. Der Takt- und Themengeber, gab er quasi zu verstehen, ist heute mehr denn je das weltweite elektronische Netzwerk. Auf die Frage, warum die Bild-Zeitung heute so und morgen so über Einwanderer schreibt und nun eine Willkommenskulturkampagne angeschoben hat, kommentiert er mit klaren Worten: „Bild ist nachweislich ein rassistisches Medium.“ Die Flüchtlingskampagne diene der Imagepflege. Augustin reklamierte die „Willkommenskultur“ als eine Aufgabe, der sich auch die MZ stellt. Man wolle Weltoffenheit zeigen. Raue hingegen plädiert dafür, bei Kampagnen Zurückhaltung zu üben. Natürlich hat ein Medium eine Aufgabe und muss eine Meinung haben, widerspricht Augustin. „Ich halte es für ganz wichtig, auch mal Flagge zu zeigen.“ Raue reagiert erneut mit einer Spitze: Er wisse, dass sich einige seiner Kollegen gerne mehr engagieren wollen, aber der MDR sei kein „Tendenzmedium“ wie eine Tageszeitung.

„Begriffe sind auch eine Stellungnahme“

Mierau sieht sich als Blogger im Wechselspiel mit den Journalisten. Blogger seien schneller und mutiger, dürften sich aber auch eher mal einen Fehler erlauben. Sie entfalteten eine Wirkungsmacht unter anderem über Twitter. „Was in Deutschland zu wenig gemacht wird, ist Medienkritik“, fügt Hilker der Diskussion eine weitere kritische Anmerkung hinzu und erwähnt als eines der wenigen, aber prominenten Kritikerbeispiele Stefan Niggemeier. Blogger seien kritische Beobachter.

Jetzt kommen Medienmacher und –beobachter aus dem Auditorium kurz zu Wort. Themen sollten öfter pro und contra diskutiert werden. Schließlich folgt die Frage, wie denn entschieden wird, welche Begriffe verwendet werden, ob man zum Beispiel von Flüchtlingen oder Migranten redet. Mierau findet die Frage sehr berechtigt, denn: Begriffe sind auch eine Stellungnahme. Raue sieht das anders: Je nachdem, in welcher Kategorie sich ein Mensch bewegt, wird er beim mdr auch bezeichnet. Jemand der als Flüchtling nach Deutschland kommt, ist demnach ein „Flüchtling“, wer dann einen Asylantrag stellt, ist ein ab dem Moment ein „Migrant“. Hilker nutzt die Schlussrunde nochmals für einen Schuss gegen die Bild-Zeitung: „Das ist kein Journalismus, sondern Publizismus.“ Der einstige mdr-Liebling Jürgen Kachelmann hätte an der Stelle sicher gerne mitgekeilt, doch er war ebenso wenig dabei, wie jemand aus Friede Springers Medienimperium.

Zachow und SonntagsNachrichten eingestellt

150 Gäste sollten kommen, jetzt sind es vielleicht halb so viele. In der Einladung zum Mediengespräch hieß es indes: „Die aktuelle Flüchtlingsdebatte, die Berichterstattung über die Pegida-Bewegung oder über den Ukraine-Konflikt – bei den aktuellen Geschehnissen kommt den Medien eine große Bedeutung zu. Doch immer mehr Bürgerinnen und Bürger, aber auch Medienexperten stellen sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Leitmedien. Nach Einschätzung von Experten, aber auch in aktuellen Medien-Studien wird deutlich, dass die Deutschen immer weniger Vertrauen in die Berichterstattung der Leitmedien haben. Immer mehr Menschen fragen sich hierzulande, wo man heute noch ‚seriöse’ und ‚wahrhaftige’ Nachrichteninformationen bekommen kann. Ersetzen schon bald die boomenden sozialen Netzwerke, wie Facebook oder der Kurznachrichtendienst twitter, die klassischen Leitmedien?“

Dass sich der Wandel der Medienlandschaft unbeeindruckt von den Eitelkeiten der Etablierten, die sich selbst als „Qualitäts- und Leitmedien“ etikettieren, vollzieht, ist für einen wachsenden Teil der „Wort- und Bildelite“ längst bittere Realität in Form von Outsourcing, Stellenabbau und Preisverfall. Dass Ende Dezember 2014 das Stadtmagazin „Zachow“ und zum 27. September 2015 die Anzeigenzeitung „SonntagsNachrichten“ eingestellt wurden, sind die Ausläufer jenes Erdbebens, das den deutschen Blätterwald gerade entlaubt.

Hintergründe

Die Medienanstalt Sachsen-Anhalt (MSA) ist in Sachsen-Anhalt die allein zuständige Behörde für die Zulassung, Lizenzierung und Beaufsichtigung privater Hörfunk- und Fernsehveranstalter. Sie wird aus zwei Prozent der in Sachsen-Anhalt anfallenden Rundfunkzwangsgebühr (im Volksmund „GEZ“) finanziert.

„Hans-Joachim Maaz – Stiftung Beziehungskultur“ im Internet

http://www.hans-joachim-maaz-stiftung.de

Blog von Caspar Clemens Mierau

http://www.leitmedium.de