Sehr geschätzter, hochverehrter … Herr Händel

von 4. Juni 2010

Mit einem Festakt wurden am Donnerstagabend im Foyer der Händelhalle auf der Spitze die diesjährigen Händelfestspiele eröffnet. Nach Reden von Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados und Kultusministerin Birgitta Wolff hat die Pianistin Ragna Schirmer einen "Brief an Händel" verlesen. Ihr erster Vortrag, wie sie gestand. "Ich wollte mal etwas außergewöhnliches bieten", sagte sie. Und bei den Festgästen kam es gut an, langanhaltender Applaus machte deutlich: es war auch für die Besucher der Festveranstaltung eine erfrischende Abwechslung, nicht nur staubtrockene Reden zu hören.

Lesen Sie hier den Brief von Ragna Schirmer:

Sehr geschätzter, hochverehrter, ….von allen im Saale bewunderter…… und (etwas verlegen) … mit Verlaub…… von mir heißgeliebter……………………………Herr Händel!

Die Umstände, in denen ich mich hier befinde, veranlassen mich, Euch diesen Brief zukommen lassen zu wollen. Stellt Euch vor: ich stehe inmitten einer Halle, die- ja, Euren Namen trägt!- modern, etwas zu kubisch für Euer Verständnis, innerhalb der sogenannten „Spitze“ , Euch bekannt als „Strohhof“ unterhalb der Salzkothen der werten Saalestadt Halle. Heute beginnen Festpiele zu Eurem Gedenken, und ich, eine Musikerin, bin von der Oberbürgermeisterin der Stadt gebeten, eine Festrede zu halten.

Lasst mich erklären:

Wir schreiben das Jahr 2010. 251 Jahre sind vergangen, seit Ihr diese irdische musikalische Welt verließet. Und gar 307 Jahre, seit Ihr Halle, der schönen Stadt an der Saale inmitten Deutschlands, gen England den Rücken kehrtet. Viel veränderte sich in diesen Jahrhunderten, und doch seid Ihr präsent. Ihr seid spürbar, und deshalb verzeiht, wenn ich mich mit diesen Zeilen direkt an Euch, werter Tonschöpfer, wende.

Erinnert Ihr Euch an Eure Geburtsstätte? Das Haus Eurer Eltern? Ihr würdet es kaum wiedererkennen, es ist nun ein Museum, innen komplett in weiß, in dem die Stationen Eures Lebens dargestellt werden, um den Menschen des "Jetzt" einen Einblick in Euer Leben zu geben. Oh, erschreckt nicht, bis heute sind die Details Eures privaten Lebens, die Ihr so akribisch geheimzuhalten wusstet, nach wie vor nur Spekulationen. Eine boulevardeske Zeitung, die meinte, Euer Zugeneigtsein in intimen Fragen aufdecken zu können, gab sich vor einem Jahr große Mühe, ebendiese einem breiten Publikum preisgeben zu wollen. Aber in Ermangelung an Beweismaterial blieben auch diese Geschwätzigkeiten nur Vermutung. Ihr hättet Eure wahre Freude, könntet Ihr sehen, wieviel Mühe in die Erforschung Eurer Person gesteckt wird. Wieviel vergebliche Mühe… Legt diesen Brief nicht erschrocken zur Seite, werter Herr Händel, lasst mich lieber erzählen, dass dies Mühen ein großes Kompliment für Euch, Eure Person, Eure Kunst sei.

Wisset, es handelt sich nun hierzulande um eine Zeit, in der Kriege, Epidemien und andere Katastrophen, wie sie Euch bekannt waren, weitestgehend zurückgedrängt sind. Es ist eine sehr technische Welt geworden, es gibt Maschinen, die den Menschen die Arbeit abnehmen. Es gibt elektrische…oh, wie erkläre ich Euch das……., was ist elektrisch? Ach, das führte jetzt sehr weit, wollte ich Euch das alles darlegen, stellt Euch einfach vor, dass sich der Mensch von allerlei Gerät das Leben scheinbar erleichtern lässt, in Wahrheit aber schafft ebensolch Gerät auch immer neue Probleme…. Allein die Sorge um Finanzen, Euch wohlbekannt, beschäftigt die menschliche Gattung wie eh und je. Größtmöglicher Profit und Gier sind an der Tagesordnung. Daran hat sich wohl kaum etwas geändert. Umso mehr freue ich mich, Euch zu berichten, dass hier heute Menschen versammelt sind, die mit ihren Mitteln dazu beitragen, Euer Andenken zu pflegen.
Wie auch Ihr immer versuchtet, mit den Königen gutzustehen, um sich deren Unterstützung zu sichern, so gibt es gottlob genügend weise Köpfe, die es schaffen, den politischen Machthabern die Mittel zu entlocken, um Musikfestspiele im großen Stile, Eurer würdig, zu veranstalten. Möge dies so bleiben…

Ja, es ist Euer Festival! Seit 1922 finden in Halle an der Saale Festspiele statt, in denen Eure Musik erklingt. Seit 1952 sogar jährlich.

Halle, ach, könntet Ihr die Stadt heute sehen: sie hat so viel erlebt… Es gab in Eurem Geburtstlande so viele politische Entwicklungen, ich könnte Seiten füllen, wollte ich all das aufzählen. Von einer ersten Republik, -ja es gibt keinen Kaiser mehr!-, über Diktatur, dann sogar Teilung des Landes in sozialistische und kapitalistische Zone. Fürwahr, im verganenen Jahrhundert wäre es Euch nicht möglich gewesen, von Halle an der Saale nach Hannover zu reisen, wie Ihr es dereinst tatet! Dort war eine Grenze, an der sogar geschossen wurde, versuchte man, diese zu überqueren.
Ich kann gar nicht ausdrücken, wie all dies geschehen konnte, es würde die Transportierbarkeit dieses Briefes sprengen, aber seid versichert, dass es durch menschliche Kraft und Mut gelungen ist, auch diese Grenze niederzureißen, sodass Ihr heute, im Jahre 2010, diesen Weg wieder nehmen könntet ohne Probleme.

Entschuldigt, ich habe so viel zu erzählen, vielleicht ist es besser, Euch zunächst einmal zu berichten, was es der Euch bekannten Institutionen in Halle noch gibt:

Erinnert Ihr Euch an den Chor, den Stadtsingechor, den dereinst Euer werter Lehrer Zachow leitete? Ihn gibt es nach wie vor, er residiert nun in den Franckeschen Stiftungen, die ja gebaut wurden, als Ihr drei Jahre alt waret. Die Franckeschen Stiftungen haben sich zum Weltkulturerbe entwickelt, eine beispielhafte Institution, in der die pietistischen Traditionen des Gründers gepflegt und lebendig erhalten werden. Dort sind wichtige Bildungseinrichtungen angesiedelt, wie eben jener Stadtsingechor. Und mit Stolz berichte ich persönlich, dass ich dort in einer Spezialschule für Musik der Ausbildung von Talenten dienen darf. Ihr wäret hocherfreut, könntet Ihr sehen, wieviel Musik in Halle gemacht wird…
Ach, und ein Opernhaus, was Ihr damals schmerzvoll vermisstet, gibt es nun auch. In diesem erklingen Eure Opern, stellt Euch nur vor, derer 43 sind bis heute aufgeführt worden! Es fehlen also nur noch drei!

Und habt keine Bange, dass dies Opernhaus ebenso bankrott gehen könnte, wie Eure beiden auf eigenes Risiko genommenen Versuche in London, momentan wird die Oper noch von Stadt und Land finanziell getragen. Ich schreibe "noch" in der Hoffnung, auch das möge so bleiben!

Aber ich schweife ab, ich wollte doch von Eurer Euch bekannten Heimat erzählen:

Die Moritzburg des Erzbistums, die Ihr so liebtet, dass Ihr sogar Eure Alibi-Dienstwohnung in der dazugehörigen Neuen Residenz unterhieltet, ist nun ein Museum für Kunst. Die Ruinen sind dergestalt, wie Ihr sie kanntet, erhalten, aber mit einer modernen Konstruktion wieder verbunden, wie kann ich Euch diesen Anblick erklären? Vielleicht, indem Ihr Euch vorstellt, eine Dame mit Reifrock, der nicht ganz vollständig ist, hätte als ein Beinkleid eine Rüstung. Ich gebe zu, der Vergleich hinkt, aber es fällt mir schwer, Euch die sogenannte moderne Kunst zu beschreiben. Es gibt nicht mehr so viele Ornamente heutzutage, die Formen sind eher schlicht und klar. Aber ich vermute sogar, Ihr würdet dies Museum lieben, es strahlt viel Emotion aus, und das war ja Euer Wesen ganz und gar.

Eure geliebte Marktkirche, in der Ihr getauft wurdet und in der Ihr Euren ersten Orgelunterricht erhieltet, steht nach wie vor glücklicherweise von Kriegen nahezu verschont, inmitten der Stadt. Ihr würdet sie sofort wiedererkennen. Genauso den roten Turm, der seit einem Jahr erneut so aussieht, wie Ihr ihn kanntet. (Zwischenzeitlich hatte die Menschheit mal einen Anbau versucht, sozusagen einen Gürtel aus Stahl und Glas, aber schweigen wir davon…)
Ihr würdet staunen, was die Glocken ebenjenes Turmes zu jeder Viertelstunde schlagen: Auszüge aus den Takten 5 und 6 Eurer Messias-Aria "I know that my redeemer liveth" verschmelzen zum sogenannten "Westminster-Schlag". Dieser erklingt nebenbei auch in London, Eurer Wahlheimat, als sogenannter "Big Ben", aber verzeiht, das möge Euch eine Musikerin aus London beschreiben, ich beschränke mich in diesem bescheidenen Briefe auf Eure Geburtsstadt, wenn es Euch recht ist…

Nein, die Hallenser sind Euch nicht gram, dass Ihr sie verließet:
Auf dem Marktplatz, im Zentrum der Stadt, steht Ihr als ein großes Denkmal. Erhaben, stolz, eben so, wie es Euch gebührt. Liebevoll nennt das Volk Euch "Dschi Äff Aidsch", um Eurer Entscheidung zum Britischen Respekt zu zollen. Und doch seid Ihr ganz Ihrer: in dieser Stadt verabredet man sich eben "am Händel". Was könnt Ihr dort nicht alles sehen, von Eurem Sockel, der neuerdings von Juni bis September sogar begrünt wird: geschäftliche Verabredungen, Liebespaare, erste zaghafte Annäherungen, sogenannte "blind Dates", „blinde Treffen“, bei denen sich potentielle Paarungswillige zum ersten Male begegnen, all das geschieht unter Euren auf die Partitur gestützten kräftigen Armen. Wann immer man bei Euch vorbeischaut, und sei es mitten in der Nacht, irgendjemand wartet immer… Und sollten die Begegnungen fruchtbar sein, dann könnt Ihr von Eurer Position aus sogar die besiegelten Eheschließungen beobachten, denn im benachbarten Stadthaus wird noch heute geheiratet.

Und an ebendieses Stadthaus wird heute Nacht eine große Illumination geworfen, ein Feuerwerk der Bilder, zu Eurer Musik, all das zu Euren Ehren. Ihr würdet staunen, seid dessen gewiß. Ich werde zu diesem Zwecke auf ein fünf Meter hohes Podest klettern, um von dort oben über den Marktplatz schallend Eure Passacaglia zu spielen- ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, in Sorge, ich könne herunterstürzen- aber für Euch tu ich das!
Ja, Ihr seid in dieser Stadt lebendig:
Stellt Euch vor, was für Geschichten heute noch erzählt werden: Unvergessen Eure Wutausbrüche, die gar damit endeten, dass Ihr eine Sopranistin, deren Gesang Euch missfiel, aus dem Fenster hieltet. Oder stimmt das nicht? Ist es Sage? Ihr wäret ein Bohlen der Neuzeit. Verzeiht. "Bohlen" bedeutet hier nicht Eure Stube, die in Eurem Geburtsthause so bezeichnet Eure Hinterlassenschaft beherbergt, nein, es ist der Name eines populistischen Musikmachers. Aber nicht mit Eurem Anspruch. Das Papier lohnt nicht, ihn hier näher zu beschreiben. Der Titan, das bleibet Ihr. Es gibt heute unterschiedliche Musikrichtungen, derer einige Euch zu noch rasenderen Ausbrüchen bringen würden, dessen bin ich mir sicher. Heute allerdings würde man aus Euren Eskapaden ein "youtube"-Video drehen. Oh, verzeiht, Ihr übersetzet dies Wort mit "Du Trompete". Mit Verlaub, das heißt es nicht. Was ist ein Video, werdet Ihr fragen:

Stellet Euch vor, man ist in der Lage, Töne und Bilder festzuhalten und zu reproduzieren. Ja, tatsächlich ist es möglich, eine Aufführung mehrfach wiederzugeben, ohne dass die Musiker ein weiteres Mal auftreten müssen. Dazu hat man große Bildschirme, wenn es sich um bewegte Bilder handelt, oder eben Tonträger, wenn es sich lediglich um die Töne handelt. Kleine Silberlinge sind diese Tonträger, und das sind sie im doppelten Sinne. Musik wird verkauft, nicht nur die Noten. Ich weiß, dass Euch als Geschäftsmann das rasend interessiert. Ihr wäret heute ganz anderen Problemen ausgesetzt als zu Eurer Zeit, dessen könnt Ihr sicher sein, wenngleich ich natürlich die Schwierigkeiten Eures Lebens nicht verkenne, Oh nein. Aber heute müsstet Ihr Euch mit Medien-Experten auseinandersetzen, Interviews geben, Ihr könntet in sogenannten „Gesichtsbüchern“, „facebook“, der Öffentlichkeit Eure erfundenen oder nicht erfundenen Privatgeschichten preisgeben, Ihr müsstet Photoshootings machen. Ein Photo ist sozusagen ein Bildnis, welches im Bruchteil einer Sekunde entsteht, und die Realität genau abbildet. Das hätte Euch bestimmt gefallen, ich nehme nach allem, was ich weiß, doch stark an, dass Ihr ein Stückweit eitel waret, nicht wahr? Entschuldigt die direkte Koketterie.

Auch das Reisen ist heute eine Angelegenheit weniger Stunden. In großen Metallvögeln schwingen sich die Menschen in die Luft, und sind so innerhalb kürzester Zeit an einem anderen Orte. Heute wäre es Euch problemlos möglich, sowohl einen Wohnsitz in London als auch in Halle zu haben und zwischen diesen beiden Stätten zu pendeln. Würdet Ihr das wohl tun? Oder wäre Eure Standhaftigkeit, mit der Ihr 34 Jahre in derselben Wohnung verbliebet, auch heute noch ein Gesetz? Wir können es nur vermuten, aber ich sage Euch, mir persönlich würde die Vorstellung gefallen, Ihr hättet ab und zu Eure Geburtsstadt besucht, in der Ihr bis heute so gefeiert werdet.

Diese Festspiele zu Euren Ehren dauern zehn Tage. Es erklingen Eure Opern, Oratorien, Eure Kammermusik und die Musiker wie auch die Zuhörer kommen von überall her. Nein, Ihr seid nicht der einzige, dem solche Festivals gewidmet werden; ich ahne, dass Ihr das jetzt lesen wolltet. Euer Freund Telemann, dem Ihr immer die tropischen Pflanzen schicken ließet, wird in Magdeburg geehrt, und der große, verehrte Bach natürlich in Leipzig. Aber seid gewiß, Euer Festival ist ein großes! Es gibt sogar noch zwei weitere Festivals in Eurem Namen in Deutschland, in Göttingen und in Karlsruhe, ich weiß, Ihr kennt diese Städte nicht, aber freut Euch doch einfach dessen. In Eurem Namen treten in Halle auch einige Popkünstler auf: Frauen mit merkwürdig tiefen Stimmen namens Tylor oder allzu schrillen Kostümen namens Hagen oder ein Pianist, der nur Sexten spielt namens Clyderman. Also falls Ihr uns von Ferne beobachten wolltet, bitte verwechselt nicht das richtige Festival mit dem open-air-Spektakel; die Verwechselbarkeit ist von Medienmachern gewollt, aber unvorteilhaft. Wir wollen Euch hier doch ehren! Es gibt sogar eine Praline und einen Kuchen, die Euren Namen tragen!

Überhaupt muss ich natürlich berichten, wie Eure Musik heute erklingt. Die Geschichte hat auch vor der Entwicklung der Instrumente keinen Halt gemacht. Die Streicher spielen auf Stahlsaiten, die Blasinstrumente haben Ventile und Klappen hinzugewonnen, und die Tasteninstrumente: ach, könntet Ihr sie sehen und hören- bis zu drei Meter lang, ein massiver Korpus aus Holz und Gußeisen, mit Klängen, von denen Ihr überwältigt wäret. Entschuldigt, dass ich als Pianistin ins Schwärmen gerate, aber gerade dies Thema interessiert mich besonders: wie würdet Ihr Eure Musik heute hören wollen, wenn Ihr könntet? Ich persönlich habe mich drei Jahre lang mit Euren Cembalo-Suiten beschäftigt, Eure etwas chaotische Hinterlassenschaft von Abschriften und unvollständigen Sätzen geordnet, und ich habe ein Drillings-Paket Silberlinge damit veröffentlicht, aber eben auf einem modernen Flügel. Ich habe versucht, dem nachzuspüren, was Eure emotionale Intention war, welche Gefühle Ihr mit welchem Suitensatze wohl ausdrücken wolltet, und ich habe mich nach Kräften bemüht, diese Emotionen in heutigem Gestus auszudrücken. Ich hoffe so sehr, dass Euch das gefallen oder genügt hätte, denn die Menschen hier schätzen diese Interpretation, und ich könnte mir nicht verzeihen, würde ich Euch nicht gerecht. Ich spiele Eure Werke nun wo ich kann, um meiner Liebe zu Euch Ausdruck zu verleihen. Vergebt mir die starken Worte, aber wir haben immerhin Drillinge zusammen! Meine Hingabe zu Eurer Musik war zeitweise so übermächtig, dass Dirigenten sagten, sogar mein Mendelssohn klinge nach Händel. Oh, wer war Mendelssohn? Das muss ich Euch unbedingt im nächsten Briefe erklären, der hat sogar Eure Oratorien bearbeitet, ein interessanter Typ. Ja, die Bearbeitungen und die Authentizität von Interpretationen sind heutzutage logischerweise ein weites Feld…

Natürlich gibt es, und das ist gut so, Spezialisten, die sich damit beschäftigen, die Barockmusik Eurer Zeit möglichst original wiederzugeben. Mit historischen Instrumenten, mit den Stilmitteln Eurer Edukation wird versucht, uns Heutigen einen Guckkasten in Eure Zeit zu ermöglichen. Es werden sogar ganze Aufführungen originalgetreu nachgestellt, beispielsweise letztes Jahr in Eurer Marktkirche. Wunderbar! Nur haben wir heute wie schon berichtet eine ganz andere Technik um uns herum, Lampen glühen auf Knopfdruck, Menschen kommen in rasend schnellen Gefährten zum Konzerte angereist, eventuell werden die Aufführungen sogar in entlegenen Städten aus kleinen Apparaten schallen, es ist ein anderes Rauschen und Dröhnen in der Luft als zu Eurer Zeit. All dies kann man nicht verleugnen, unsere Wahrnehmung vonTempo und Lautstärke ist eine andere geworden. Aber wir bemühen uns, Eure Musik lebendig zu erhalten, seid dessen versichert! Wäret Ihr wohl einverstanden mit dem, was wir Interpreten in Eurer Musik vermuten? Wäret Ihr glücklich mit unseren Inszenierungen, die Eure Opern wiedergeben? Wir können es nur hoffen und unser Bestes versuchen. Über manche Mittel verfügen wir allerdings gar nicht mehr- so gibt es beispielsweise keine Kastraten. Diese Partien werden von mit Kopfstimme singenden Herren übernommen oder von einer erfolgreichen Operndiva italienischer Herkunft für meine Begriffe hervorragend wiedergegeben. Aber Knaben zu kastrieren, ist verboten heutzutage. Wohl besser so.

Ach, werter Herr Händel, während ich diesen Brief verfasse, spüre ich diesen Raum mehr und mehr von Eurem Geiste durchdrungen. Er wird uns in den nächsten Tagen umgeben, und das ist ein großes Glück. Wir Interpreten werden, mit Verlaub, in Eurem Namen Eure Werke gestalten. Und viele, viele Zuschauer und Zuhörer werden dies Erleben teilen. Das muss ich noch loswerden: hättet Ihr mit der Aufführung Eurer Feuerwerksmusik in London nicht beinahe die halbe Stadt abgefackelt, so wären vielleicht die Sicherheitsbestimmungen für Feuerwehr und Katastrophenschutz in Europa nicht so massiv verstärkt worden, dass derzeit sogar eine Messe diesen Inhaltes in Leipzig stattfinden muss. Stellt Euch vor, die Feuerwehrleute schlafen in den Betten, die eigentlich für Festival-Besucher vorgesehen waren! Skandalös! Aber wir sind heute trotzdem eine große Gemeinde, die Euch feiern wird, und gleich beginnt das Eröffnungskonzert in Eurer Halle, stellt Euch vor, es sind 1500 Besucher! Und viele, viele Tausend in den nächsten Tagen!

Dieser Brief ist eine Liebeserklärung.

Ich persönlich wünsche mir von Herzen, dass die Händel-Festspiele mit allen, die daran beteiligt sind, Euren hohen Ansprüchen gerecht werden, und ich verspreche Euch, dass ich meinen bescheidenen Teil zu tun versuche, meiner Leidenschaft für Euch immer wieder und überall Nachdruck zu verleihen, auf dass sie sich verbreiten möge.

Somit grüße ich Euch im Namen der Händel-Festspiele 2010,
ich verneige mich vor Euch aus der Ferne,
und würde mich freuen, von Euch zu hören!
Eure Ragna.