Erster internationaler Apothekenversandhandel in Deutschland am Halleschen Waisenhaus

Erster internationaler Apothekenversandhandel in Deutschland am Halleschen Waisenhaus
von 5. Juni 2018

1698 legte der Theologe und Pietist August Hermann Francke (1663–1727) den Grundstein für das Hallesche Waisenhaus als Nukleus einer Schulstadt, der heutigen Franckeschen Stiftungen, die in vielerlei Hinsicht einzigartig ist: Neben dem ältesten Schulgarten Deutschlands, einer Bibliothek, die Anfang des 18. Jahrhunderts zu den umfangreichsten ihrer Zeit zählte und deren Bestand zeitweise größer war als der der hallischen Universitätsbibliothek, hat die aktuelle Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen den Blick auf die Medikamenten-Expediton des Halleschen Waisenhauses gelenkt. Dr. Claus Veltmann, Kustos des Waisenhauses und Kurator der Ausstellung ist sich sicher: »Mit der Medikamenten-Expedition hat Francke nicht nur seine Idee der Bildung für alle finanziell absichern können, er gründete hier vielmehr den ersten internationalen Apothekenversandhandel in Deutschland«. Zum Ausstellungsabend in der Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen »Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert« am 7. Juni 2018 wird er gemeinsam mit Claudia Weiß, M.A., die Medikamenten-Expedition einem breiten Publikum vorstellen.

1698 etablierte der Stiftungsgründer eine Apotheke zur kostengünstigen Versorgung mit Medikamenten der mit seiner Schulstadt verbundenen Menschen. Von Anfang an wurden einmal in der Woche im Rahmen einer Sprechstunde unentgeltlich Arzneimittel an Arme und Bedürftige ausgegeben. Nachdem Johann Juncker (1679–1759) 1716 die Stelle als Anstaltsarzt übernommen hatte, stieg die Zahl der Patienten in der Sprechstunde auf monatlich über 1.000. Juncker ist auch für die Einführung der Famulatur, der Ausbildung von Medizinstudenten am Krankenbett, verantwortlich, wie er sie in den Stiftungen Franckes praktizierte. Schnell erkannte Francke, dass der Medikamentenhandel auch seinen gesellschaftlichen Reformzielen im christlich-pietistischen Sinn dienlich sein könnte. 1704 führte er in einer programmatischen Schrift, dem sog. »Großen Aufsatz« aus, man solle »dieselbige Arzeneyen in weit entlegenen Ländern, und zum theil auch in andern theilen der Welt […] vertreiben, so ist im geringsten nicht zu zweiffeln, daß nicht durch dieselbige allenthalben der allerbequemste Eingang in die Gemüther und gleichsam eine Thür, die Seelen Gott zu zuführen, erlanget werden könnte.« Schon 1701 war die sogenannte Medikamenten-Expedition des Halleschen Waisenhauses aus der Apotheke herausgelöst worden. Sie widmete sich der Herstellung von Arzneimitteln und deren überregionalem bzw. internationalem Vertrieb. Organisatorisch war die Medikamenten-Expedition ein eigenständiger »erwerbender Betrieb« der Stiftungen Franckes. Zunächst entstand ein dichtes Netz von Verkaufsstellen für Waisenhausmedikamente im Deutschen Reich, das bis nach Wien reichte. Gleichzeitig wurden hallische Arzneien in alle protestantischen Regionen Europas exportiert, zu denen das Hallesche Waisenhaus Kontakt hatte: so z. B. nach Litauen, Ungarn, Siebenbürgen oder Dänemark. Wichtigster europäischer Markt für die Waisenhausarzneien wurde jedoch Russland. Die Einfuhr erfolgte über Archangelsk am Weißen Meer, dem damals wichtigsten russischen Hafen für den Handel mit West- und Mitteleuropa, später auch über St. Petersburg. Deutsche, dem Pietismus nahestehende Lutheraner, organisierten die Distribution und den Handel innerhalb Russlands.

Da beim Versandhandel eine Beratung wie zur Sprechstunde am Halleschen Waisenhaus nicht erfolgen konnte, wurden die Medikamente von einer Anleitung zur Selbstmedikation begleitet. Die verfasste zunächst Christian Friedrich Richter (1676–1711), der ab 1701 bis zu seinem Tod die Medikamenten-Expedition leitete. Seine Anleitung »Kurtzer und deutlicher Unterricht Von dem Leibe und natürlichen Leben des Menschen: Woraus ein jeglicher / auch Ungelehrter erkennen kann/ Was die Gesundheit ist und wie sie zu erhalten« wurde bis 1791 in 18 Auflagen gedruckt und damit zu einem Klassiker der medizinischen Literatur.

Die Medikamente wurden einzeln oder zu mehreren vertrieben, wobei auch standardisierte Sets bestimmter Medikamente angeboten wurden. Zu den Verkaufsschlagern gehörte die Essentia Dulcis des Halleschen Waisenhauses, die weltweit vertrieben wurde. Die hallischen Pietisten erreichten mit dieser Goldtinktur auch den Zaren in Russland. Am 30. November 1716 ist in Franckes Tagebuch nachzulesen: »Die Frau Obristen von Campenhausen hat geschrieben, und Erinnerung gethan, daß die letztgesandte Essentia dulcis nicht so schiene zu seyn, wie die so Ihr. Czarische Mayst. vormals erhalten. daraus auch eine Probe mit gesandt worden. Hierauf ist geantwortet, daß diese noch beßer sey.«

Der erste außereuropäische Absatzmarkt für die hallische Medizin war Indien, wo ab 1706 die erste protestantische Mission, die Dänisch-Hallesche Mission, von Missionaren aus Halle aufgebaut wurde. Der Transport nach Asien erfolgte in der Regel mit dem Schiff über Kopenhagen oder England. In Indien wurden die Arzneien von den Missionaren bzw. den Missionsärzten zur unentgeltlichen Behandlung von Kranken in den Missionsstationen genutzt, wobei die medizinischen Aktivitäten sich positiv auf den Erfolg der Mission auswirken sollten. Auch auf ihren Reisen durch Südindien führten die Missionare und das indische Missionspersonal Medikamente zur Behandlung der Bevölkerung mit sich. Für einen erfolgreichen kommerziellen Vertrieb der hallischen Medizin gibt es hier keine Anzeichen.

Anders sah es in Nordamerika aus, wo das pharmazeutische Standardangebot zu einem Verkaufsschlager wurde. Vor allem in Pennsylvania entfaltete das innovative System des hallischen Medikamentenhandels seine Wirkung. Die Anleitung zur Selbstmedikation war auf die Bedürfnisse der Siedler zugeschnitten, die oft weit entfernt vom nächsten Arzt wohnten. Zudem waren die hallischen Pastoren in medizinischen Grundkenntnissen ausgebildet und konnten die Mitglieder ihrer ländlichen Gemeinden behandeln. Diese bekamen die Medikamente kostenlos, Mitglieder anderer deutschsprachiger Gemeinden mussten sie kostenpflichtig erwerben. Um die Pfarrer herum bildeten sich kommerzielle Netzwerke zum Handel mit Medikamenten und Büchern aus Halle. Damit stiegen in den Jahren 1761–1770 die Einnahmen der Medikamenten-Expedition auf das 4-fache (30.450 Reichsthaler) im Vergleich zu den Jahren 1710–1720 (9.000 Reichsthaler) an. In Europa erwirtschaftete allein der Handel mit Russland im Jahr 1709 4.846,56 Rubel. (Der Monatslohn des Ökonomen betrug 1714 2 Reichsthaler, 16 Groschen).

Werbung, systemischer Ansatz und Standardisierung machten es möglich, dass die Medikamenten-Expedition des Halleschen Waisenhauses als erste international agierende Versandapotheke zu einem innovativen Pharma-Großunternehmen des 18. Jahrhunderts geworden war. Untrennbar mit dem Halleschen Waisenhaus verbunden, bildete sie einen wichtigen Bestandteil der universalen Reich-Gottes-Arbeit Franckes.

Erster internationaler Apothekenversandhandel in Deutschland am Halleschen Waisenhaus

Kuratorenführung durch die Jahresausstellung mit Dr. Claus Veltmann und Vortrag von Claudia Weiß, M.A.

»Eine offene Thür zu allen Völckern und Nationen« – Der weltweite Versand der hallischen Waisenhaus-Arzneien

DONNERSTAG, 7. JUNI 2018, 18.00 UHR, FRANCKEPLATZ 1/ HAUS 1

EINTRITT FREI