„Agenda 2010“ kommt als Bumerang zurück

von 27. Februar 2017

Als direkter Angriff gegen die SPD ist der Begriff bereits vor mehr als 100 Jahren zu finden, wenn man die Arbeiter mit dem Volk gleichsetzt, was damals sicher mehrheitlich zutraf, und den Begriff des „Volksverräters“ hinzuzieht. Er tauchte etwa 1916 in einem Flugblatt auf und entsprang der SPD-internen Auseinandersetzung um die weitere Treue zum Proletariat oder dem Verrat an ihm. Verfasserin des Flugblatts war Rosa Luxemburg, hieß es 1927 in der Publikation „Spartakus im Kriege: Die illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Krieg“ von Ernst Meyer. Der rote Faden setzt sich fort in die Weimarer Republik: Friedrich Ebert (SPD), heute Namensgeber einer Stiftung der SPD, paktierte mit den nationalistischen Freikorps unter Gustav Noske (ebenfalls SPD), die den Aufstand der Spartakisten (5. bis 12. Januar 1919) im revolutionären Berlin blutig niederschlugen und unter anderem die Arbeiterführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordeten. In den Folgemonaten bis Mai 1919 ließ Ebert auch die Räterepubliken blutig niederschlagen. Das brachte Ebert und mit ihm der SPD den Ruf als „Arbeiterverräter“ ein.

Der Begriff kursierte also ursächlich im politischen linken Lager und erlebte dort bereits 1849 seine Premiere, als der Abgeordnete und bekennende Marxist Wilhelm Wolff im Frankfurter Parlament, dem ersten demokratischen Element in Deutschland, Reichsverweser Johann von Österreich und die Mitglieder der Reichsregierung „Volksverräter“ nannte.

In der aktuellen Debatte um das Volk (oder die Arbeiter) und die Volksvertreter fällt der SPD immer wieder die „Agenda 2010“ auf die Füße, denn die Arbeitsmarktreform unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zu Lasten der SPD-Stammwählerschaft wird von nicht wenigen Menschen als Verrat angesehen. Dabei schwingt die Frage mit, ob die Volksvertreter das Volk tatsächlich vertreten oder die Interessen des Großkapitals und des Apparats. Das Volk ist in dem Kontext das arbeitende Volk. Der Verrat an ihm ist so gesehen “Volksverrat”.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass „Volksverräter“ im Jahr 2016 zum „Unwort des Jahres“ gewählt worden ist – aus etwas mehr als 1000 Einsendungen deutschlandweit. Allein die als Begründung für die Wahl herangezogene Behauptung stimmt nicht, das Wort sei ein Erbe von Diktaturen. Richtig ist, dass die Nationalsozialisten das Wort exzessiv nutzten und gerne weiter propagandistisch zuspitzten, indem sie gegen „Volksschädlinge“ wetterten. Zwischen 1933 und 1945 kam es jedenfalls einem Todesurteil gleich, wenn man als „Volksverräter“ gebrandmarkt war. Auch im Stalinismus galt der Ruf den Regimekritikern und führte zu Gefängnis, Straflager und sehr oft schließlich zum Tod. Heute gehört das Wort eher zum Waffenarsenal der extremen Rechten und wird dort gerne mit der Forderung nach dem Todesurteil für die Geächteten verbunden. Es ist das beliebte Spiel, zur Bekämpfung des Gegners dessen Optik und Sprache zu okkupieren. Wenn jedoch nach der Logik Begriffe auf den Index kommen, werden politisch korrekte Menschen wohl eines Tages schweigen müssen. Es bleibt der Ausweg, bei der Beurteilung der Begriffe stärker zu wichten, wer was in welchem Kontext gesagt hat und mit welcher Absicht. Das wiederum ist gewiss eine mühsame Arbeit, bei der sich auch die Frage nach der Grenze stellt.

Zurück zur verbalen Attacke gegen den SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz: Es war ein Ruf von unten nach oben; wie 1849 im Frankfurter Parlament. In den Diktaturen war es umgekehrt. Bleibt die Frage, ob das Ziel der Attacke vom 23. Februar 2017 eine Provokation war oder der Aufruf zum politischen Streitgespräch. Letzteres darf bezweifelt werden. Doch es kann fatale Folgen haben, wenn das unflätige Vorpreschen Einzelner in der politisch angespannten Großwetterlage des Jahres 2017 als Tat Radikaler oder Irrer interpretiert würde. Es ist vielmehr der Pfiff der Glocke aus dem Schnellkochtopf: Noch mehr Druck und es knallt!