Die Gewalt ist von der Hetze nicht zu trennen

von 13. November 2015

Es ist erst wenige Wochen her, da waren wir alle stolz: stolz auf ein neues Gesicht, das Deutsch[-]land zeigte. Ein sympathisches, empathisches, weltoffenes Gesicht. Das Gesicht der Menschen vom Münchner Hauptbahnhof und anderswo, die Flüchtlinge mit offenen Armen empfingen. Es war ein Gesicht, das die Welt von Deutschland so nicht erwartet hatte.

Heute sieht die Welt aus Deutschland auch wieder andere Gesichter. Das Gesicht des Hasses von Menschen, die auf der Straße ihre Fremdenfeindlichkeit herausschreien. Das Gesicht der Panik bei Menschen, die von muslimischen Flüchtlingen das Abendland bedroht sehen. Das Gesicht von Menschen, die Verschwörungstheorien nachlaufen und den Reden von Volksverhetzern lauschen.

Und die Welt sieht die Taten von Menschen, die ihr Gesicht nicht zeigen, sondern im Schutz der Dunkelheit, der Anonymität von sozialen Netzwerken feige Angriffe verüben, auf Menschen, die vor Krieg und Terror zu uns geflüchtet sind, auf ihre Unterkünfte und auf Menschen, die sie unter[-]stützen. Dem müssen wir entschieden entgegentreten. Das ist ein Verfall der Sitten, die gerade von jenen doch vollmundig gefordert werden.

Versuchen wir etwas Sachlichkeit in die Debatte zu bringen. Was ist in Deutschland geschehen in diesen Wochen?

Ich denke, drei Dinge sind wichtig.

Erstens: Die Flüchtlingszahlen haben sich gesteigert, und das Tempo der Zuwanderung hat so zugenommen, dass unsere Aufnahmekapazitäten darauf nicht eingerichtet waren. Bund, Länder und Kommunen haben lange gebraucht, zusätzliche Reserven zu mobilisieren, die Verfahren anzupassen und die Finanzierung sicherzustellen. In diesem Prozess sind wir mittendrin.

Das sind objektive Probleme, ohne deren Lösung die Aufnahme der Flüchtlinge tatsächlich nicht gelingt und die Integration blockiert wird.

Zweitens: Unter dieser Entwicklung ist die Solidarität unter den europäischen Staaten mehr oder weniger zusammengebrochen. Wir alle hatten uns daran gewöhnt, dass Grenzen verschwunden waren oder keine Bedeutung mehr hatten. Jetzt müssen wir erfahren, dass der Prozess der europäischen Einigung keineswegs so „unumkehrbar“ ist, wie wir das immer glauben wollten.

Beide Prozesse – administrative Schwierigkeiten im Inneren und Verwerfungen auf der europäischen Ebene – sind Entwicklungen, die viele Menschen zutiefst verunsichern.

Das dritte Problem in dieser Situation markiert allerdings keine problematische Veränderung, sondern einen bedrohlichen Stillstand. Nämlich: Es hat sich nichts getan am Rassismus in den Köpfen mancher Menschen.

Seit Jahrzehnten zeigen uns alle einschlägigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, dass ein Teil der Bevölkerung ein geschlossenes nationalsozialistisches Weltbild hat und dass Fremdenfeindlichkeit ein weit darüber hinaus reichendes Potential hat. Das ist seit der Wiedervereini[-]gung nicht anders als vorher in der alten Bundesrepublik und, so darf man unterstellen, im Verborgenen auch in der DDR.

Das Problem Fremdenhass war latent immer da, und jetzt wird es virulent. Nazis gab es eben immer in der Gesellschaft. Die, die sich lange schon in Kameradschaften oder in der NPD dazu bekannten, wittern jetzt Morgenluft. Die, die sich bislang lieber auf ihre bürgerliche Existenz zurückgezogen hatten, gründen AfD-Landesverbände, marschieren für das „Abendland“ oder spielen „besorgte Bürger“.

Niemand soll sich vormachen, dass es möglich ist, isoliert nur die Gewaltexzesse zu bekämpfen. Es wird nicht reichen, nur Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte oder Angriffe auf Büros demokratischer Parteien zu verurteilen und juristisch zu bekämpfen. Diese Delikte sind von der Hetze nicht zu trennen, die dazu angestiftet hat und sich wie Gift verbreitet. Wer gegen Menschen wegen ihrer Herkunft oder ihrer Religion hetzt, der nimmt in Kauf, dass sie bedroht und angegriffen werden. Wer dafür plädiert, an der Grenze auf Flüchtlinge zu schießen, der nimmt auch in Kauf, dass Unterkünfte brennen.

Was können wir dem entgegensetzen?

Zwei Dinge: Einen funktionierenden Staat. Und eine klare Haltung.

Es ist unverzichtbar, dass alle Verantwortlichen ihre Aufgaben jetzt so erledigen, dass die prakti[-]schen, administrativen Probleme der Flüchtlingsaufnahme geklärt werden und wir vom Krisen[-]modus zum Volllastmodus übergehen, dass so etwas wie unaufgeregte Normalität entsteht.

Bei der Erstaufnahme werden die Voraussetzungen dafür Schritt für Schritt geschaffen. Aber mit baulichen Maßnahmen allein ist es nicht getan. Es darf nicht so bleiben, dass ankommende Flüchtlinge derzeit Termine im Juli 2016 für ihre Antragstellung zugeteilt bekommen.

Die Beschleunigung der Verfahren darf dabei aber keinesfalls zu Lasten der Qualität gehen. Darin unterstütze ich die Personalräte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ausdrücklich.

Wir müssen alles daran setzen, dass niemand den Eindruck von Staatsversagen bekommen oder erwecken kann.

Neben dieser pragmatischen Handlungsfähigkeit kommt es zugleich auf eine klare Haltung gegen die Feinde der Demokratie und gegen den Rassismus an. Diese Aktuelle Debatte ist sicher ein wichtiger Schritt. Er wäre aber noch viel überzeugender gewesen, wenn wir es geschafft hätten, dass alle vier Fraktionen sie gemeinsam beantragt hätten.

Parteien haben unterschiedliche Ideen, wie die Aufgaben zu bewältigen sind. Menschen haben unterschiedliche Auffassungen, ob und wie es gelingen kann. Dass man dies sagt und darüber diskutiert, zuweilen auch streitet, ist übrigens noch keine Fremdenfeindlichkeit. Schief sind aller[-]dings manche Vergleiche dennoch und unnötig.

Sprache produziert Bilder, Bilder in den Köpfen… Deshalb ist es gut, wenn alle, die in der Öffent[-]lichkeit stehen, besonders darüber nachdenken.

In den nächsten Wochen und Monaten wird sich entscheiden, ob im März 2016 wieder Feinde der Demokratie in den Landtag von Sachsen-Anhalt einziehen können.

Der Landesvorstand meiner Partei hat am Dienstag in einem Beschluss jede Zusammenarbeit mit der AfD, der NPD und anderen offen rassistischen oder rechtsextremen Parteien ausgeschlossen.

Ich lade alle im Landtag vertretenen Parteien ein, dass wir eine solche Haltung auch gemeinsam vertreten.

SPD-Landtagsfraktion Sachsen-Anhalt