Die “irren Zeiten” im Revolutionscafe

von 31. Oktober 2009

Friedliche Revolution, Wende, Konterrevolution, Wiedervereinigung, Mauerfall. Die Ereignisse vom Herbst 1989 verbindet jeder mit seiner eigenen Geschichte. Überwältig waren damals aber die meisten, „Wahnsinn“ umschrieben es viele. Und den spontanen kollektiven Schlachtruf vieler Herbstrevolutionäre 1989 haben hallesche Psychiater jetzt zum Anlass genommen, einen Wettbewerb auszuschreiben.

Rund 30 Geschichten gingen ein, die besten drei wurden am Samstagnachmittag beim Revolutionscafe im Volkspark in Halle (Saale) prämiert. Platz 3 und 200 Euro bekam Wolfgang Kupke für seine Story „Mit Fahne, Gesang und Fallschirm ins vereinte Deutschland“. Kupke erzählt darin, wie er die DDR mit verändern wollte, auf seiner ersten Westreise eine DDR-Fahne mitnahm und sich damit auch noch in der Frankfurter Paulskirche fotografieren lassen wollte. Und wie er für 150 Mark zwei Fallschirme erstand. Man hätte ja vielleicht daraus ein Kleid nähen können. Dachte Kupke. Seine Frau indes sah das anders.

Der zweite Platz mit 300 Euro ging an Very Barth. Er berichtete über seine Erfahrungen während einer Montagsdemo am Hansering. Und Annerose Piltz sicherte sich mit ihre Geschichte „ABC“ Platz 1 und 500 Euro. Sie berichtet über Patient ABC in der Nervenklinik und dessen Wendegeschichte.

Auf den folgenden Seiten lesen Sie die Siegergeschichten:
Seite 2: ABC von Annerose Piltz
Seite 3: Der Abwiegler von Very Barth
Seite 4: Mit Fahne, Gesang und Fallschirm in das vereinte Deutschland von Wolfgang Kupke
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ABC

1

Vielleicht darf ich diese Geschichte gar nicht erzählen. Ich kam zu ihr als Angehörige des mittleren medizinischen Personals im staatlichen Gesundheitswesen. Als Mitarbeiterin einer kommunalen Behörde unterliege ich auch heute noch der Schweigepflicht.
Vielleicht ist es gut und nützt mir, wenn ich hiermit erkläre: Die hier geschilderte Person und alle Vorgänge sind frei erfunden und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen rein zufällig.
Übrigens, ob die Person, die diese Geschichte betrifft, noch lebt, weiß ich nicht.
Die Person war verrückt, ihre Geschichte auch. Alles ist wohl wirklich passiert, aber wie wahr das alles gewesen ist, das ist doch etwas anderes.

2

Ich nenne die Person einfach ABC.
ABC war Patient der Nervenklinik.
Dazu muss man wissen, Patienten störten die normalen Arbeitsabläufe und die Zufriedenheit der Mitarbeiter einer Klinik, immer wieder, auch zu DDR-Zeiten. Patienten waren eine Belastung für das Klinikpersonal, wie Fahrgäste für Busfahrer, wie Kunden für Verkäuferinnen, Reisende für Zugschaffner, Schüler für Lehrer, Gäste für Kellner und Bürger für Polizisten. Alle diese Menschen waren eine Zumutung, eine Belastung für mit ihnen befasste Werktätige.
Wie schön hätte das Leben sein können in der Klinik. Schon das Wort „Pattzjenten“ war unangenehm und verdiente die entsprechende Aussprache.
Wenn es aber einen Patienten gab, der ohne Zweifel eine Belastung, ja eine Zumutung für das gesamte Gesundheitswesen war, so war es ABC.
Seine Einstellung war durch und durch negativ. Für ihn war die Klinik „sein Laden“.
Hallo Leute, da bin ich! Kaum war er rein, sagte er zu allen du. Er rauchte auf dem Klo, er ging nicht zur Arbeitstherapie, er wollte keine oder nur ganz wenig Medikamente nehmen. Er kam und ging, wie er wollte. Eine Zumutung!

3

Dabei wusste jeder, der war nichts, der konnte nichts, und außer Abitur hatte der nichts. Der wollte aber alles haben, alles sein und alles können.
Dass aus ihm nichts wurde, das lag am Staat, so erzählte er allen, die mit dem Staat nichts am Hut hatten.
Es lag an der Krankheit, sagte er allen anderen, bei denen er nicht sicher war, wie sie zum Staat standen.
Er hatte Abitur, wie gesagt, aber einen komischen Charakter.
Eine Krankenschwester fragte mal einen Arzt nach der Krankheit von ABC.
„Der ist nicht krank, der hat eine Macke, aber eine so große, dass es schon wieder krank ist.“
In der Akte stand „Persönlichkeitsfehlentwicklung“. Eine alte Oberärztin aber sagte kurz und bündig hinter vorgehaltener Hand: „Schizo“. ABC röche nach Mausedreck, wie Schizo eben riecht, fand sie. Ja, komischer Geruch bei ABC, fand auch das Personal.

4

ABC suchte persönlichen Kontakt, wo er nur konnte, das war das Schlimmste an ihm. Er ging den Schwestern nicht von der Pelle, er duzte die Ärzte, verwickelte alle in Gespräche. Er trank beim Heizer Goldbrand-Schnaps, er nervte junge Patientinnen im Park. So war er, wenn er in der Klinik war.

Wenn er nicht in der Klinik war, ging er in Gerhard-Schöne-Konzerte und zu Lesungen halbverbotener Dichter. Oder einfach in den Studentenklub Turm, quatschte alle an, ließ sich Bier ausgeben. Man wurde ihn schwer los.

ABC hatte lange, gekräuselte, fettige Haare, er war immer unrasiert und trug ein verwaschenes gelbes T-Shirt, blaue speckige Jeans, eine zerfranste grüne Kutte und Jesuslatschen. Er sah ganz normal aus.
Man sah ihm den Rentner nicht an. ABC war invalidisiert.
Als Rentner hatte er es gut und nichts zu befürchten. Die Nichtarbeit war in der DDR, außerhalb von Kindheit oder Alter, eine Krankheit oder eine Straftat. ABC hatte sich richtig entschieden.
Ein und derselbe Macke-Doktor hatte ihm erst die Wehrdienstuntauglichkeit und später die Invalidität bescheinigt. Ein Kumpel eben, sagte ABC.

5

ABC hatte, wenn er nicht woanders schlief oder beischlief, eine feuchte Wohnung in der Altstadt mit lauter Musik.
Fast jedes Jahr, meist im Winter kam er für zirka 14 Tage in die Klinik.
Hier war er so oder so, mal unauffällig, mal auffällig, je nach dem. Mal schlief er viel, mal lief er viel rum, mal heulte er, mal grölte er Biermanns Lieder, aber nur die Refrains, mal sagte er tagelang gar nichts, mal lachte er sich halb tot, über die Spießer und alle anderen.
Er hatte aber eine künstlerische Ader, dem Stationspfleger malte er das Deckblatt für einen Neuerervorschlag und manchmal schrieb er für die Patientenwandzeitung.
Ein Gedicht hatte die Überschrift „Haltet Mittagsruhe!“ – „Geduld und Spucke wird uns heilen,/ wir müssen hier nur ruhig verweilen/ und auf den Rat der Ärzte hören/ und nicht den Klinikfrieden stören!“

6

Im Oktober 89 hielt ABC nichts in der Klinik, obwohl das Haus mit seiner Wohnung gerade ein Bisschen abgerissen wurde.
Neue Zeit, Demos, Bewegung – ABC war dabei.
Er, Feten-Knolle, Zucker-Tüte und Streech-Lutze, stadtbekannte Originale und Frührentner, waren mittendrin, als es losging. Knolle stolperte, nicht ganz nüchtern, messerscharf an einem Polizisten, der ein gelbes Band mit der Aufschrift „Keine Gewalt trug, vorbei, und brach sich den linken Arm. Er kam wegen dieser Tapferkeit als Leichtverletzter in die Zeitung „Freiheit“, die sich gerade wendete. Ein tolles Bild, wie ABC seinem Freund bei der nächsten Demo den gipsweißen Heldenarm in die Luft streckte! Dazu der berühmtgewordene ABC-Ruf ins Mikrofon „Keine Gewalt, ihr Pappnasen!“ Unvergesslich!.

Unvergesslich auch der Tanz von ABC auf den Tischen der ersten revolutionären Nachtkneipe im ersten Stock über Ofen-Neuberts Laden.

7

Der Rest ist schnell erzählt:
Lieber Genosse OPQ – ich bin kein Genosse stöhnte Medizinalrat OPQ, Kreispsychiater von Halle. Trotzdem fuhr Genosse XYZ von der SED-Bezirksleitung vertraulich in dem Schreiben fort: …also bitten wir Dich nach Absprache mit dem Kreisarzt, Genossen IJK , dem Bürger ABC mit medizinischen Maßnahmen und mit der Vermittlung einer neuen Wohnung behilflich zu sein. Der ABC ist uns schon länger bekannt und trotz seiner gesundheitlichen Probleme immer bemüht gewesen, staatliche Organe in ihrer Arbeit mit Informationen über negative Personen und Meinungen im staatlichen Gesundheitswesen zu unterstützen. Auch jetzt hat er enge Kontakte zu Kräften des sogenannten „Neuen Forum“ und ist bereit mit den Organen zusammenzuarbeiten. Mit sozialistischem Gruß XYZ, Sekretär usw.
Kreispsychiater OPQ selbst gab dann eine Thermokopie dieses Schreibens in die Hände des Neuen Forums. Dort lag das Schreiben aber nur so rum. OPQ wurde Gesundheitsamtsleiter, ehe er sich auf seinen Weinberg bei Freyburg zurückzog. Genosse Sekretär XYZ war erst Garderobier im Kongresszentrum, der früheren Bezirksleitung, später gründete er ein Sanitätshaus.

8

ABC aber wohnte nur kurze Zeit in seiner neuen Wohnung. Er überließ sie seinem Nervenarzt, der sie bald gegen eine bessere tauschte.

ABC ist dann wohl rübergemacht. Irgendwo bei Wanne-Eikel, soll er untergekommen sein.
Das hätte jedenfalls Feten-Knolle erzählt, sagte man.
Aber was aus dem geworden ist, weiß auch keiner mehr.

Annerose Piltz

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Der Abwiegler

Vermutlich war's der 6. November 1989. Aber wie's mit der zeitlichen Erinnerung so ist: sie kann täuschen.

Etliche Montagsdemos hatten seit dem 7.Oktober'89 Halle wieder und wieder in Unruhe versetzt. Dazu gehörte nicht viel, war doch das ganze kleine Land, die größte DDR der Welt, seit Wochen in permanenter Unruhe. Die große Leipziger Demo hatte schon Geschichte geschrieben.

Auch an diesem späten Nachmittag, der schnell in einen leicht vernebelten Abend überging, knisterte es auf dem Markt. Die Spannung war zu greifen, die die mehreren zehntausend in Bewegung hielt. "Stasi in die Volkswirtschaft", "Wir bleiben hier", "Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr hin", waren einige Sprechchöre, die an verschiedenen Stellen des Demonstrationszuges aufwallten. Und Spruchbänder forderten "Gewaltfreiheit für unsere Stadt!" Und immer wieder "Wir sind das Volk", das eine Stunde später einen anderen Zungenschlag bekam, einen wesentlich anderen: "Wir sind e i n Volk". Da dauerte es auch nicht lange, bis einer das Deutschlandlied anstimmte. Viele, viele sangen mit.

Ich bekam Gänsehaut, sogar Angst, mich gruselte. Am Markt noch wurde -vermutlich durch die Genossen aus dem Rathaus – per Lautsprecher durchgesagt, daß an der Eissporthalle offene Mikrofone und Lautsprecher installiert seien. Das Ablenkungsmanöver war zu plump.

Die Massen ließen sich nicht lenken und zogen über die Klement-Gottwald-Straße — den unteren Bereich des Boulevards — zum Hansering.
Dort, an der aus Stein gemauerten Rednertribüne schräg gegenüber vom Bezirksgericht, nahmen zu ihnen freundlicheren Zeiten die Genossen der Bezirksparteileitung die Huldigungen des Volkes entgegen, die sie sich durch Schmieren erschlichen hatten.
Kaum, daß das Volk an der großen Freitreppe vorbei war, verkrümelte es sich nach Hause vor den Westfernseher oder in die Kneipen, in denen Bier und Schnaps und Bockwurst billig zu haben waren.

Heute aber war niemand bestellt. Keiner war geschmiert, es sei denn, die agent provokateurs der Stasi. Die weitaus meisten waren aus freien Stücken auf der Straße, weil sie Veränderung wollten – welche auch immer.

Wieso an der Rednertribüne am Hansering ebenfalls offene Mikrofone und Lautsprecher installiert waren, wunderte mich ein wenig. Über dem nur durch die Straßenleuchten erhellten Hansering bildeten sich dünne Nebelschwaden, die kühle, feuchte Herbstluft wurde durch die Menschenmassen aufgeheizt. Hier war buchstäblich ein Kessel am dampfen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er hochgehen würde. Die Worte aus den Lautsprechern waren dazu geeignet, mehr Druck auf den Kessel zu bringen.

Ich hatte einen Standplatz etwa zehn, zwölf Meter hinter und leicht oberhalb des Mikrofons gefunden.
Die Sprecher waren für mich nicht sichtbar.

Einer, der sich als Arzt vorstellte, gab einen kurzen Bericht über die Situation im städtischen Gesundheitswesen. Die Ärzte und Schwestern könnten die Krankenversorgung bald nicht mehr gewährleisten, weil es an Medikamenten und Verbandsmaterial mangele.

Eine sehr hohe weibliche Stimme, die offensichtlich einer Krippenerzieherin oder Kindergärtnerin gehörte, keifte mehr als sie sprach. Sie wolle nie wieder mit den ihr anvertrauten Kindern Soldaten, spielen müssen oder sinnlose Entwicklungsbögen ausfüllen. Außerdem fühlte sie sich mit ihren Kolleginnen gelegentlich mißbraucht, wenn die Stasi über manche Eltern Auskunft von ihnen verlangte.

Ein Bunese, ein Mitarbeiter der Buna-Werke in Schkopau, die für die verdreckteste Luft über Halle mitverantwortlich waren – sprach darüber, daß viele Anlagen dort hoffnungslos überaltert seien and sie ständig bis zum Anschlag fahren würden, es wäre ein Wunder, daß bisher noch kein größerer Unfall mit Folgen für die ganze Region passiert sei.

Zwischendurch konnte ich in unmittelbarer Umgebung des Mikrofons immer wieder Ieichtes Gerangel beobachten. Es sah so aus, als ob auch Personen an's Mikro drängten, die ihren Suff rausbrüllen wollten. Sie wurden beiseitegeschoben.

Eint tiefe, sonore Stimme legte sich beruhigend über die Massen. Ganz wenige Sätze, in denen es um Ruhe bewahren und Besonnenheit ging. Und dann, sinngemäß:

Auch in Rumänien gehen die Menschen auf die Straße. Wie wir eben erfahren haben, hat es in Timisoara durch den Einsatz bewaffneter Kräfte Tote gegeben. lhnen zu Ehren wollen wir eine Minute schweigen.

Das Summen und Knistern hörte auf. Stille über dem Hansering. Zehntausende Menschen, über denen Wölkchen aufstiegen. Nicht nur Zigarettenqualm. Kein Hüsteln, kein Räuspern.
Stille.

Und nach der Minute sagte dieselbe Stimme:

Und nun gehen wir alle friedlich nach Hause.

Mir richteten sich die Nackenhaare auf. Davon, daß das Knistern schlagartig aufhörte.

Es dauerte keine große Weile, ehe der Hansering leer war und wieder Autos fuhren.

Very Barth

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Mit Fahne, Gesang und Fallschirm in das vereinte Deutschland

Damit man mich wegen mancher meiner Taten in den Jahren 1989/90 nicht für völlig verrückt erklärt, muss ich einige Worte vorausschicken. Es lag Ende der achtziger Jahre in der Luft, dass sich in der DDR etwas verändern wird und dass wir Teilnehmer und Zeitzeugen großer geschichtlicher Veränderungen sind, ja ich hatte sogar das berauschende Gefühl, Geschichte mitzuschreiben. Beim denkwürdigen Olof-Palme-Friedensmarsch im September 1987 haben wir aufmüpfige Plakate getragen, erstaunlicherweise hat die Staatsmacht nicht eingegriffen, das hat uns mutiger gemacht.
Durch Beobachtung der Kommunalwahlen im Mai 89 haben wir die Fälschung nachgewiesen, auch danach erfolgten keine Verhöre, Zuführungen oder Verhaftungen. Mit vielen anderen gewann ich das Gefühl, wir können etwas verändern.
Ich kam mir nicht mehr klein, bedeutungslos und machtlos vor, ja in mir wuchs Stolz und Mut und die Gewissheit, dass wir Freiheit und Demokratie ertrotzen können. Wir sind auch wer, wir müssen uns nicht ducken und auch nicht kleinmachen vor den Westdeutschen, das waren so meine Gedanken.
An ein wiedervereinigtes Deutschland war nicht zu denken, aber eine andere DDR wollte ich mit erkämpfen.
Nur mit diesem inneren Stolz ist es zu erklären, dass ich auf meine erste Westreise zu Verwandten im August 89 eine DDR-Fahne mitgenommen habe. Ich wusste nicht konkret wofür, aber im geeigneten Moment wollte ich mich als stolzer DDR-Bürgerrechtler zu erkennen geben.
Die Stasi-Zöllner fragten mich beim Grenzübergang nach dem Zweck der Fahne, wenn ich mich recht erinnere, habe ich gestottert, dass ich sie verschenken will.
In Frankfurt traf ich dann meinen kurz vorher ausgereisten Freund, der mir Frankfurt zeigte und mit mir auch in die Paulskirche ging.
Angesichts der mutigen Revolutionäre von 1848, die Demokratie und Freiheit erkämpft haben, hielt ich den Moment für gekommen, meine Fahne hervorzuholen und ich bat meinen Freund, mich mit der DDR-Fahne in der Paulskirche zu fotografieren.
Er -noch voller Zorn auf die DDR- rief quer durch die Paulskirche „Du bist wohl verrückt“!
Ja, es war verrückt, in der Paulskirche stolz mit DDR-Fahne zu stehen, es war geradezu eine Entweihung. Heute bin ich froh, dass da kein Foto gemacht wurde, es würde zu völlig falschen Schlüssen führen.

Als wenige Wochen später die Mauer geöffnet war, wurde ich mit Freunden, die ebenfalls dem studentischen Gesang zugetan waren, nach Heidelberg zu einem großen Festkommers der katholischen deutschen Studentenverbindungen ins Heidelberger Schloss eingeladen.
Als DDR-Bürger mit Studentenmützen wurden wir von über 1000 Korporierten stürmisch gefeiert. Mein kurzes Grußwort wurde nach jedem Satz bejubelt und die Schläger der Chargierten krachten auf die Tische. In dieser Situation hätte ich-ehrlich gesagt- auch das Telefonbuch vorlesen können.
Zum Schluss sangen wir alle stehend „Einigkeit und Recht und Freiheit…“ – die Nationalhymne der Bundesrepublik.
Ich habe mich dann sekundenschnell mit meinen Freunden verständigt und gleich im Anschluss die Nationalhymne der DDR angestimmt
„Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland“ schallte es durch den großen Festsaal des Heidelberger Schlosses während wir alle die Studentenmützen abgenommen und die Chargierten ihre Schläger zur Ehrerbietung erhoben hatten.
Nur mit diesem inneren Stolz ist diese Situation zu erklären, wir wollten uns auf Augenhöhe ins einige Vaterland einbringen.
Es war sicher das erste und letzte Mal, dass die DDR-Hymne im Heidelberger Schloss, und noch dazu mit solch innerer Bewegung und Feierlichkeit, gesungen wurde.

Bei einer der Montagsdemos in Halle machte ich auch einen verunglückten Versuch, die Teilnehmer zum Singen zu bewegen. Im Kreiskirchenamt vervielfältigte ich auf dem dortigen Ormig – Gerät die Internationale, deren Melodie alle kannten. Aber schon beim Verteilen der Liedzettel merkte ich, dass diese Idee verrückt und zum Scheitern verurteilt war. Es kam nach meiner Erinnerung nicht zum Gesang von „Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die man stets zum Hungern zwingt“…mit dem Refrain
„Völker, hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!“

Im Dezember 89 kam plötzlich ein neu eingestellter Kollege in mein Arbeitszimmer im Bürogebäude des Energiekombinates und nahm mir gegenüber am Schreibtisch Platz. Gearbeitet wurde damals in unserer Abteilung kaum noch. Wir erzählten uns deshalb viel und der neue Kollege berichtete, dass er bei den Luftstreitkräften der NVA war. Nach drei Tagen gestand er, dass er dort Offizier der Staatssicherheit war.

Dieser neue Kollege hatte wohl gute Beziehungen zum Flugplatz Oppin und berichtete eines Tages, dass dort die Fallschirme der GST für 150 DDR-Mark verkauft werden.
Fallschirme kamen mir interessant vor, ich hatte immer gehört, dass sich die Frauen nach dem Krieg aus Fallschirmseide Kleider genäht hätten. Kurz entschlossen sagte ich „Da nehme ich zwei“ und schon am nächsten Tag brachte er zwei solche braungrünen Rucksäcke mit vielen Verschürungen mit. Irgendwie werde ich die schon mal gebrauchen können, dachte ich bei mir.
Dass meine Frau über den Kauf von zwei Fallschirmen nicht gerade erfreut war und das Argument des möglichen Kleidernähens nicht gelten ließ, brauche ich sicher nicht weiter beschreiben. Beide Fallschirme wurden gleich auf dem Boden eingelagert.
Ein Tages packte mich dann aber leider die Neugierde und ich zog unvorsichtigerweise an so einem roten Griff – da quoll aus diesem braungrünen Fallschirmsack die Fallschirmseide hervor wie einst die Hirse in diesem Märchen vom Hirsebrei, der alles überschwemmt. Es quoll und quoll heraus und ich stand inmitten der Fallschirmseide. Alle Versuche, diesen Fallschirm wieder in seinen Sack zu bringen blieben erfolglos. Später habe ich ihn entsorgt.
Es gab aber noch einen Verrückten, der gedacht hat, ein Fallschirm kann nicht schaden, und hat mir den zweiten Fallschirm für 150 DDR-Mark abgekauft.
Dieser andere Verrückte ist niemand anderes als unser Peter Jeschke. Und wenn er ihn nicht verschenkt oder entsorgt oder sich seine Frau feine Kleider daraus genäht hat, so hat er ihn noch heute.

Wolfgang Kupke