Ein Schild für einen Baron

von 18. August 2009

Bildung im Vorübergehen: Bürgerstiftung Halle versieht Straßenschilder in der Cansteinstraße mit Zusatzinformationen

Im Rahmen des Projekts „Bildung im Vorübergehen“ versieht die Bürgerstiftung jeden Monat in Halle (Saale) Straßenschilder mit zusätzlichen Informationsschildern, die Auskunft über die Namensgeber der Straßen geben sollen. Am Mittwoch wird eine Tafel für Carl Hildebrand Freiherr von Canstein angebracht – dem Stifter der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle, der ältesten in der Welt. Gespendet wurden die Schilder von Dr. Franz-Raban Freiherr von Canstein aus Bornheim, einem Nachfahren Cansteins.

Die Franckeschen Stiftungen, die 1695 als Waisenhaus zu Glaucha unter Leitung August Hermann Franckes vor den Toren der Stadt Halle entstanden, sind der imposante Ausdruck des Engagements und des Reformeifers ihres berühmten Stifters. Doch für die Entwicklung der Franckeschen Stiftungen ist fast im gleichen Atemzug mit Francke der Baron Carl Hildebrand von Canstein, auf den die Cansteinstraße zurückgeht, zu nennen. Der Baron, der eigentlich für eine juristische Laufbahn im Dienste des brandenburg-preußischen Staates vorgesehen war, verschrieb sich ganz dem Dienst für Gott. Berühmtheit erlangte er durch die nach ihm benannte Cansteinsche Bibelanstalt, deren Name noch heute durch das Canstein-Bibelzentrum in den Franckeschen Stiftungen präsent ist.

Der Freiherr (eine andere Bezeichnung für Baron) von Canstein entstammte einem alten westfälischen Adelsgeschlecht, das vielfältig mit den Eliten des preußischen Staates verwandt und bekannt war. Er erblickte am 4. August 1667 auf Gut Lindenberg in Brandenburg als Sohn Rabans von Canstein, der als Geheimer Rat und Oberhofmarschall zu den wichtigsten Ministern des „Großen Kurfürsten“ Friedrich Wilhelm von Brandenburg zählte, das Licht der Welt. Die Erziehung des Sprösslings war streng und stets auf fromme Bildung ausgerichtet. Im Alter von 16 Jahren nahm er das Studium der Rechtswissenschaften in Frankfurt (Oder) auf, dem ganz zeittypisch eine längere Reise durch Süd- und Westeuropa folgte. Er kehrte erst 1688 beim Tode des Großen Kurfürsten zurück und trat unter dessen Nachfolger Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg und späterer König Friedrich I. von Preußen, in den Staatsdienst ein. Das ausschweifende kurfürstliche Hofleben in Berlin, dem er als Kammerjunker angehörte, entsprach aber wohl weniger seinem Naturell und so wechselte er 1692 in eine militärische Laufbahn. Doch er erkrankte lebensbedrohlich an der Ruhr und gab der Überlieferung zu folge das Versprechen, er wolle sein gesamtes Leben im Dienst für Gott verbringen, sollte dieser ihn von der schweren Krankheit erlösen. Der baldigen Genesung folgte die Aufgabe des Soldatenlebens und gestützt auf das beträchtliche väterliche Erbe beschäftigte er sich fortan mit der Lehre Luthers und dem Studium der Bibel.

Ebenso prägend für den Werdegang des Barons wurde 1694 die erste Begegnung mit Philipp Jakob Spener, einem der einflussreichsten Theologen des 17. Jahrhunderts, der als Vater des sogenannten lutherischen Pietismus gilt. Der Pietismus war die erste nachhaltige Reformbewegung innerhalb der protestantischen Kirche in Deutschland seit der Reformation. Einst hatte Luther die kirchliche Lehre reformiert, nun sollte dieser eine Reformation des Lebens folgen. Die Pietisten bemühten sich deshalb um eine Verinnerlichung des Glaubens, die mit der Betonung eines sittsamen, tugendhaften Lebens und einer Fokussierung auf die Heilige Schrift einherging. Im Gegensatz zu radikaleren Strömungen innerhalb des Pietismus strebten Spener als Mentor und seine Anhänger die Reform der Kirche an, ohne sie erneut zu spalten. Der Freiherr von Canstein erhielt so durch Speners Kontakte Verbindung zu jenem Kreis der Berliner Pietisten, zu Francke und den übrigen Theologen der neugegründeten Universität Halle. Von seinem Wohnsitz Berlin aus führte er fortan eine umfassende Korrespondenz mit nahezu allen wichtigen Vertretern des lutherischen Pietismus. Durch seine immer noch engen Kontakte zum kurfürstlichen Hofe entwickelte er sich so zunehmend zum Mittelsmann zwischen dem Hof und den Freunden in Halle, wo sich das Zentrum der Bewegung gebildet hatte, sowie Berlin. Dem alternden Spener war er in den letzten zehn Jahren seines Lebens ein treuer Freund und ein überaus engagierter Gehilfe, so dass man von einer stetig wachsenden Bedeutung des Baron für die Pietisten ausgehen muss. Obwohl er als studierter Jurist aus theologischer Sicht nur Laie war, entwickelte er sich immer mehr zum organisatorischen Dreh- und Angelpunkt der Bewegung. Spätestens nach dem Tode Speners 1705 gab es wohl keine an den brandenburgischen Kurfürsten oder dessen Räte gerichtete Bittschrift, keine Anstellung oder Entscheidung, in die er nicht involviert gewesen wäre.

Besonders bemühte er sich um die Geschehnisse im Halleschen Waisenhaus, das bekanntlich neben den Waisen auch Bürgerskinder und Söhne und Töchter adeligen Standes ausbildete. Hierzu vermittelte er Kontakte und vornehmlich adelige Schüler, wirkte als Geldgeber im großen Stil und Stifter zahlreicher Einrichtungen innerhalb der Franckeschen Anstalten. Über die Funktion des Geldgebers entstand eine umfangreiche Zusammenarbeit zwischen Francke und dem Baron, der auch zu regelmäßigen Besuchen nach Halle kam und sich über den Fortgang seiner Projekte informierte. Dazu zählten ein Witwenhaus, eine Schule für adelige junge Mädchen und die bekannte Bibelanstalt, die weltweit erste ihrer Art.

Diese 1710 gegründete Bibelanstalt, die das Ziel verfolgte das Neue Testament und die Bibel zu einem enorm günstigen Preis allen Ständen zugänglich zu machen, wurde ihm zur Herzensangelegenheit, trug sie doch maßgeblich zur Einlösung seines Versprechens bei. Durch die erstmalige Verwendung stehender Letter in Deutschland – das Verfahren war bereits aus den Niederlanden bekannt – konnten bei hohen Auflagen, die Kosten für erneutes Setzen der Letter eingespart werden. Außerdem erhoffte sich Canstein eine umfassende Subventionierung jeder einzelnen Bibel durch reiche Spender, die er gewinnen wollte. Bereits 1712 konnte er sich an den ersten Exemplaren des Neue Testaments erfreuen, das für 2 Groschen in den Handel kam. Ein Jahr später folgte die Ausgabe der gesamten Bibel. Da die kostengünstigen, aber guten Drucke ein absoluter Erfolg wurden, erlebten sie binnen weniger Jahre mehrfache Auflagen. Für Canstein blieb es materiell gesehen, und das war eigentlich nie anders geplant, ein Verlustgeschäft. Als Geldgeber und Initiator gab er der guten Sache seinen Namen und überlies Francke und seinen Mitarbeitern die Drucklegung und Führung der Unternehmung.

Der Baron, der selbst in seiner 1707 geschlossenen Ehe kinderlos blieb, erklärte dann auch die Franckeschen Stiftungen zu seinem Universalerben. Nachdem im Jahre 1718 seine Frau Bertha von Krosigk verstarb, schied der Baron von Canstein ein Jahr später am 19. August 1719 aus der Welt. Bis zu seinem Tode entstanden insgesamt etwa 100.000 Exemplare des Neuen Testaments und etwa 40.000 Bibeln. Die Cansteinsche Bibelanstalt, die diesen Namen erst 1775 erhielt, ging als weltweit erste Bibelanstalt in die Geschichte ein.

Literatur:

Plath, Carl H. C.: Carl Hildebrand Freiherr v. Canstein. Versuch eines Beitrages zur Geschichte des Spenerisch-Franckischen Pietismus, Halle (Saale) 1861.

Schicketanz, Peter: Carl Hildebrand Freiherr von Canstein: Leben und Denken in Quellendarstellungen, in: Hallesche Forschungen, Bd. 8, Tübingen 2002.

Bertram, Oswald: Geschichte der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle, Halle (Saale)1863.