Erinnern an Luther und Selmnitz

von 9. November 2009

Seit zwei Jahren schon läuft das Projekt „Bildung im Vorübergehen“. Die Bürgerstiftung Halle versieht dabei jeden Monat Straßenschilder mit zusätzlichen Informationsschildern, die Auskunft über die Namensgeber der Straßen geben sollen. So wird am Dienstag, Luthers Geburtstag, sowohl der Reformator Martin Luther als auch Felicitas von Selmnitz, Freundin der Familie Luthers und Förderin der Reformation in Halle geehrt.

Hermann von Lips, Nachfahre Martin Luthers und Professor an der Theologischen Fakultät der MLU, spendete die Schilder für den Lutherplatz. Für die Frau-von-Selmnitz-Straße hat der Freundeskreis der Marienbibliothek und für die Calvin- und die Zwinglistraße die Luthergemeinde die Schilder ermöglicht.

Einzelheiten auf Seite 2:
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Felicitas von Selmnitz (1488 – 1558)
Felicitas Münch wurde 1488 als Tochter des Adeligen oder auch Ritters Hans von Münch, einem am kursächsischen Hof angesehenen, und wohl auch vermögenden Mannes geboren. Münch nahm in der Landgrafschaft Thüringen zahlreiche Vogtei- und Gerichtsämter für seinen Landesherren wahr.

Über die Kindheit und frühen Jahre von Felicitas vor der Heirat mit Wolf I. von Selmnitz (1475-1519) 1507 in Allstedt – der dort seit 1502 kurfürstlich-sächsischer Haupt- und Amtmann des Schlosses war – ist wenig bekannt. Nach gesicherten Quellen nahmen an der Hochzeit neben dem Kurfürst Friedrich III., dem Weisen (1486-1525) auch andere regionale Adlige von höchstem Stand teil. Nach 1509 siedelte die Familie nach Halle über und Wolf von Selmnitz kaufte für 250 Gulden in der Amtsstadt Glaucha einen Hof. Diesen konnte er wohl auch durch das reiche Erbe seiner Frau FelicitasŽ erwerben, die er nach dem Tod seiner ersten Frau, Amalia von Bünau, durch die Heiratspolitik des Kurfürsten – der Ehen unter den adligen Familien am Hof förderte – heiratete. Von den in der Ehe geborenen fünf Söhnen und zwei Töchtern überlebte nur der zweitgeborene Sohn Georg das Kindesalter.

Wolf von Selmnitz wurde 1519 Opfer eines privaten Händels, als Moritz von Knebel, Marschall auf der halleschen Moritzburg und Sohn des verfeindeten Thilo von Knebel, ihn nach einem Festmahl zur Hochzeit eines Kammerherren bei Kardinal Albrecht von Brandenburg (1490-1545) hinterrücks erstach. Ursache dieses tödlichen Streits waren Konflikte, die noch aus der Allstedter Zeit von Selmnitz herrührten. Moritz von Knebel wurde am folgenden Tag als Mörder in Acht genommen, konnte aber fliehen.

Felicitas von Selmnitz führte den Hof in der Nähe der Georgenkirche weiter, geriet aber durch die Vormundschaftsansprüche der Neffen ihres Mannes in einen Erbstreit, den erst Herzog Georg von Sachsen (1500-1539) schlichten konnte. Da Felicitas auf die Güter, die ihr laut Erbe zustanden, aus Versorgungsgründen, wollte sie ihre Kinder einträglich versorgen, nicht verzichten konnte, trat sie als eine der ersten Frauen vor das herzoglich-sächsische Appelations- und Schiedsgericht und vertrat ihre Anliegen.

Den Zugang zum aufkommenden protestantischen Glauben erhielt sie vermutlich durch ihren Schwager und Justus Jonas sowie besonders durch den Kaplan der Glauchaer Georgenkirche Thomas Müntzer, der sie religiös stark beeinflusste. Mit 35 Jahren lernte sie von ihrem Sohn das Lesen und begann ein intensives selbständiges Bibelstudium, welches sie zum Konfessionswechsel veranlasste. Als eine der ersten Anhängerinnen der Reformation nahm sie 1523 zu Weihnachten das Abendmahl in beiderlei Gestalt durch Thomas Müntzer an.

Im Jahre 1527 begleitete sie ihren Sohn zu dessen Studium nach Wittenberg und gehörte als geistig hoch gebildete und angesehene Frau zur Tischrunde Martin Luthers. Kardinal Albrecht forderte sie in der Folge als offene Verfechterin der Reformation 1528 auf, dieser abzuschwören, anderenfalls müsse sie die Stadt Halle verlassen. Zum politischen Druck kamen auch wirtschaftliche Maßnahmen, die geeignet erschienen, die Hallenser im alten Glauben zu halten. In dieser Situation schrieb sie an Martin Luther, der seiner „lieben Freundin in Christo“ riet, die Stadt zu verlassen, um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Ihrem Gewissen gehorchend, ließ sie sich mit ihrem Sohn in Wittenberg nieder. Dort stand sie mit Luther in enger Verbindung. Der Reformator schenkte ihr eine Erstausgabe seiner Bibelübersetzung von 1534 mit eigenhändiger Widmung. Diese Bibel, die der Marienbibliothek in Halle gehört, war der Luthergestalt in der Marienkirche beigegeben, welche mit der Totenmaske und dem Abbild der Hände des Reformators noch bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts die Besucher erschreckte. Luther verwandte sich in den folgenden Jahren noch mehrmals in den unterschiedlichsten Belangen für Felicitas von Selmnitz.

Felicitas’ Leben war als Witwe an die Lebenswege ihres Sohnes Georg gebunden, der als Student der Wittenberger Universität zwischen den urbanen Mittelpunkten der sächsischen Reformation – Wittenberg, Jena und Torgau – im Gefolge der Reformatoren umherzog und auch vor der wiederholt auftretenden Pest nach Jena, dem Verlagerungsort der Universität, fliehen musste. Dort verbanden sich auch die verstreuten Wege der Geschwister von Felicitas von Selmnitz mit der Revolution des Glaubens: Eine Schwester hatte im Zuge der Reformation ihren Habit als Nonne abgelegt und einen angesehenen Bürger geheiratet. Nach Luthers Tod und dem (wahrscheinlichen) Ende der Anstellung ihres Sohnes am sächsischen Hof zogen beide 1546 nach Magdeburg und ein Jahr später nach Zerbst bevor sie im gleichen Jahr in das inzwischen sich der Reformation öffnende Halle zurückkehrten.

Der Lebensweg des Sohnes war in der Folge, aber auch schon vorher ein Spiegel der Laufbahn eines aus adligem und angesehenem Hause stammenden Protestanten: Vor seinem Studium 1523 Page bei Graf Gebhard VII. von Mansfeld-Mittelort auf Schloss Seeburg wird er nach seinem Studium 1540 durch den Kurfürsten zum Gerichtsassessor in Wittenberg bestellt, 1550 Kanzler der Mansfelder Grafen und 1552 Hofrat des Merseburger Bischofs Michael Sidonius. Diese Karriere war sicherlich seinem Studium, aber wohl auch der Vermittlung der Wittenberger Reformatoren und dem Ansehen und Wirken seiner Mutter geschuldet.

Felicitas von Selmnitz konnte nach ihrem Umzug nach Halle die spannungsreichen Auseinandersetzungen zwischen Erzbischof Johann Albrecht von Brandenburg-Ansbach (1541/45-1550), städtischem Rat, Geistlichkeit und Bürgerschaft um die Einführung der Reformation und den Sieg derselben unter Erzbischof Sigismund von Brandenburg (1552-1566) mit verfolgen. Den Reformatoren Halles, Justus Jonas und Sebastian Boetius, schenkte sie vor ihrem Tod am 01. Mai 1558 ihre umfangreiche Sammlung reformatorischer Schriften mit wertvollen Widmungen Luthers, Bugenhagens und Melanchthons für die sich im Aufbau befindende Marienbibliothek.

Im Todesjahr seiner Mutter erwarb Georg von Selmnitz ein Erbbegräbnis auf dem erst kürzlich im Bau begonnenen Stadtgottesacker, wo später auch die Grabplatte, welche Felicitas an der Seite ihres Mannes und einiger ihrer Kinder zeigt, Aufstellung fand (Bogen 12).

Das Schicksal dieser Frau in den Zwiespälten einer von theologischen und machtpolitischen Ansprüchen geprägten Zeit, zwischen Reformation, Verfolgung, weiblicher – zumeist adliger – Emanzipation, Krisen, Seuchen und Kriegen fällt aus den schematischen Rollenbildern der „gehorsamen Weiber“ im Gefolge ihrer Männer heraus. Dieses Leben zwischen Selbstbestimmung und Unabhängigkeit machte ihr eine gleichberechtigte Stellung neben den etablierten Männern – die ihrerseits gegen eingeübte Machtkonstellationen den Aufstand probten – möglich und befähigte sie, in den sich entwickelnden protestantischen Stadtgesellschaften ihrer Aufenthaltsorte eine angesehene Position einzunehmen. So traditionell und unbedeutend, wie sich ihre Stellung aus der Inschrift des Grabsteins herauslesen ließe, war die bei ihrem Tod 70-jährige belesene und hoch geehrte Witwe nicht. Ihren Zeitgenossinnen schien sie vorbildhaft und weiblichen wie männlichen Nachfahren späterer Jahrhunderte nahezu revolutionär gewesen zu sein.

Literatur
Bagenski, Rudolf von: Geschichte der Familie von Selmnitz, ergänzt u. hrsg. von Siegmar Schultze-Galléra, Halle (Saale) 1914.
Delius, Walter: Die Reformationsgeschichte der Stadt Halle a. S., in: Beiträge zur Kirchengeschichte Deutschlands, Bd. 1, Berlin (Ost) 1953.
Freybe, Peter (Hrsg.): Frauen fo(e)rdern Reformation. Elisabeth von Rochlitz, Katharina von Sachsen, Elisabeth von Brandenburg, Ursula Weida, Argula von Grumbach, Felicitas von Selmnitz, Wittenberg 2004.
Scholz, Michael: Residenz, Hof und Verwaltung der Erzbischöfe von Magdeburg in Halle in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Residenzenforschung, Bd. 7, hrsg. v. d. Residenzenkommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Sigmaringen 1998.
Tietz, Anja A.: Der Stadtgottesacker in Halle (Saale), 1. Aufl., Halle (Saale) 2004.

Die Beziehungen des Reformators Martin Luther zu Halle
"Hall, du werte Stadt, der barmherzige Gott erhalte dich, dass du nicht gar versinkest, du hast je Gottes Wort geliebt, darum wird dich Gott erhalten" (Tischrede Luthers)

Halle als Residenz der Erzbischöfe von Magdeburg, aber gelegen im unmittelbaren Wirkungsraum Luthers, zwischen Thüringen, Anhalt, und dem Brandenburgischen, war ein bedeutender Brennpunkt der reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts. Der spätere Kardinal Albrecht war für Luther wegen der prunkvollen Zurschaustellung seines kostbaren Reliquienschatzes, der als “Hallisches Heiltum” nahezu unbegrenzt Ablass und Sündenfreisprechung versprach, ein Hauptgegner in seinem Kampf gegen den Ablasshandel. In Briefen und Schriften nannte Luther den Erzbischof nur den “Abgott von Halle” und seine Kathedrale (der hallesche Dom) das “Schandhaus zu Halle”. Albrecht bemühte sich, Halle zu einem antireformatorischen Zentrum und durch Gründung einer Universität zu einer Art "Gegenwittenberg" aufzubauen. Die starke römisch-katholische Präsenz behinderte lange die Einführung der Reformation in Halle.

Luther verfolgte die Vorgänge in Halle: Im September 1527 verfasste er die “Trostunge an die Christen zu Halle über Herrn Georgen ihres Predigers Tod”, (jener wurde von Unbekannten ermordet), 1528 erscheint die “Trostschrift an die Christen zu Halle”, in der er die Einwohner ermutigte, sich vom „Tyrannen“ nicht einschüchtern zu lassen, sondern fleißig zum Abendmahl zu gehen.

Prediger der Marienkirche, der neuen Hauptkirche der Stadt war 1541 Justus Jonas (1493-1555) geworden, Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg, ein alter Mitstreiter Luthers, der ihn schon 1521 auf dem Reichstag zu Worms begleitet hatte. Nachdem auf dem Landtag in Calbe in einem Vergleich mit den Ständen des Erzbistums Magdeburg der Abzug des Kardinals aus Halle erzwungen wurde, hielt Jonas am Karfreitag, dem 15. April 1541 die erste evangelische Predigt in Halle. Zur Erinnerung an diese Predigt schaffte Magistrat eine zweibändige Bibelausgabe (1541 durch Hans Lufft in Wittenberg gedruckt) an und lässt sie durch handschriftliche Eintragungen u. a. Luthers und Melanchthons schmücken. Diese Bibelausgabe wird heute im Stadtarchiv aufbewahrt.

Es wird angenommen, dass Luther des öfteren in Halle war, 1518 soll er sogar knapp dem Schuss eines Landsknechtes entgangen sein, verbürgt jedoch sind seine Reisen nach Halle gegen Ende seines Lebens. Im Sommer 1545 weilte Luther in der Stadt und nahm Quartier im Haus „Zum Goldenen Schlösschen“ in der Schmeerstraße 2, in dem auch Justus Jonas wohnte. (Eine Gedenktafel am Haus erinnert heute an diesen Besuch.) Am 5. August predigte er zum ersten Male in der noch im Bau befindlichen Marienkirche und wurde danach vom städtischen Rat gastlich empfangen, bewirtet und mit einer Ehrengabe von 60 Talern ausgezeichnet, welche er für den Bau der Marienkirche stiftete.

Auch im Oktober sowie Weihnachten machte er auf der Durchreise bei seinem Freund Jonas Station. Auf der Rückreise am 6. Januar 1546 sowie bei dem wetterbedingten Aufenthalt während seiner letzten Reise ins Mansfeldische am 25. Januar predigte er wieder in der Marienkirche. Am 18. Februar 1546 starb Luther in Eisleben. Der Trauerzug, der Luthers Leichnam nach Wittenberg überführte erreichte am 20 Februar Halle und wurde über Moritzbrücke, Alten Markt und Schmeerstraße von Geistlichkeit, dem städtischen Rat und der rege Anteil nehmenden Bevölkerung zur Marienkirche geleitet. Hier wurde der Sarg über Nacht in der Sakristei aufgebahrt.

Der im Dienste des halleschen Rates stehende Maler Lukas Furtenagel hatte noch in Eisleben eine Totenmaske des Verstorbenen abgenommen, welche durch Justus Jonas in den Besitz der Marienkirche gelangte. Die Maske sowie Abdrücke der Hände Luthers wurden 1663 durch den halleschen Künstler Lucas Schöne für eine lebensgroße Lutherfigur zusammengefügt, welche zunächst in der Marienbibliothek und dann in einem Nebenraum der Marienbibliothek aufbewahrt wurde. Diese Figur gibt es heute nicht mehr, 1926 wurde die ursprüngliche Totenmaske rekonstruiert. Die originalen Wachsabgüsse der Totenmaske und der Totenhände werden heute in der Turmkammer der Marienkirche aufbewahrt.

Zum 400. Geburtstag Luthers 1883 wurde vom halleschen Steinmetz Emil Schober eine Reliefbüste aus Sandstein an der Ostseite der Marienkirche zwischen den Hausmannstürmen angebracht. Vier Jahre später wurde eine Straße im Süden der Stadt zwischen Beesener und Merseburger Straße nach dem Reformator benannt, 1905 folgt der Lutherplatz am Schnittpunkt Lutherstraße, Liebenauer und Turmstraße.

Originalzeugnisse des Wirkens Luthers finden sich heute in der Marienbibliothek (deren Bestand mit einer Sammlung von Luthers Schriften begann), den Franckeschen Stiftungen, dem Stadtarchiv sowie der Universitätsbibliothek.

Quellen:
Stadtarchiv, Signatur FA 11000
Reformationsdenkmäler des 19. und 20. Jahrhunderts, Otto Kammer, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig, 2004