Legale Einreisemöglichkeiten schaffen – Fluchtursachen bekämpfen

von 7. Oktober 2015

„Eine solche Reise vermittelt innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Eindrücken. Letztlich stellt sich jedoch die Frage nach den politischen Schlussfolgerungen:

  • Es ist eine Illusion, Migration an den EU-Außengrenzen dauerhaft und wirksam durch Grenzsicherung aufhalten zu können. Die Mehrzahl der Flüchtlinge aus Nordafrika und der Sub-Sahararegion haben in ihren Herkunftsländern jede Sicherheit und Perspektive verloren, sie sind bereit, ihr Leben für einen Weg nach Europa aufs Spiel zu setzen. Wer die Zahl von Flüchtlingen wirklich reduzieren will, kann das nur durch den Kampf gegen die Fluchtursachen erreichen, die zur Zeit durch auch durch die Mitgliedsländer der EU – durch Interventionen, Waffenlieferungen, Klimapolitik und unfaire Finanz- und Handelsbeziehungen – verstärkt werden.

  • Seit der Lampedusa-Katastrophe vor zwei Jahren, bei der 385 Menschen ums Leben gekommen sind, sind allein auf der Route Libyen – Italien etwa 5.000 Menschen ertrunken. Wer sich damit nicht abfinden will, muss legale Einreisemöglichkeiten nach Europa schaffen.

  • Innerhalb der EU müssen die Standards für Asylverfahren angeglichen werden.

  • Wir benötigen in der Bundesrepublik Deutschland neben eindeutigen gesetzlichen Regelungen für die Aufnahme von Menschen in Not auch eine gesetzliche Regelung, die normale Arbeitsmigration wirklich ermöglicht.

  • Die Ängste in der Bevölkerung in Sachsen-Anhalt beruhen oftmals darauf, dass viele Menschen ihre soziale Situation selbst als unsicher oder bedroht empfinden. Sie haben Angst davor, dass sich diese Situation durch Flüchtlinge verschärft. Um das zu verhindern, bedarf es der realen Gleichbehandlung aller Menschen, die hier im Land leben. Sonderregelungen, wie sie z.B. Ministerpräsident Haseloff beim Mindestlohn für Flüchtlinge fordert, befeuern die Angst, den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren und durch die billigere Arbeitskraft eines Flüchtlings ersetzt zu werden.

  • Viele Menschen haben bereits erkannt, dass die Abwehr von Flüchtlingen an den Grenzen auch die Grundwerte unserer Gesellschaft im Inneren angreift. Sie stehen deshalb Flüchtlingen offen gegenüber und sehen diese als Bereicherung und Chance für unser Land. Politik hat die Aufgabe, diese Menschen zu unterstützen und nicht zu verunsichern oder gar zu diffamieren.

Nicht nur diese Reise machte deutlich, dass Landes-, ja selbst Kommunalpolitik heute mehr denn je nicht allein in Europa sondern auch darüber hinaus maßgeblich beeinflusst wird. Wer darüber hier entscheidet, muss sich auch mit den Realitäten dort auseinandersetzen.“

Anlage:

Charta von Palermo beispielhaft für Europa – ein kurzer Bericht über eine Reise

Anlässlich des zweiten Jahrestages des Massensterbens von Flüchtlingen aus Nordafrika vor Lampedusa unternahm die Fraktionsvorsitzendenkonferenz der LINKEN zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Informationsreise nach Tunis und Palermo zur Realität der Flüchtlingsbewegung über die so genannte Mittelmeerroute. Seitens der Fraktion nahmen daran ihr Vorsitzender Wulf Gallert und deren migrationspolitische Sprecherin Henriette Quade teil.

Schwerpunkt der Termine in Tunis war die Diskussion mit offiziellen und halbstaatlichen Organisationen (Deutsche Botschaft, EU-Repräsentanz, Staatsminister für Migration, UNHCR, IOM – International Organisation of Migration). Daneben gab es Treffen mit NGO’s, die sich mit der Unterstützung von MigrantInnen in Tunesien beschäftigen sowie ein Treffen mit Müttern auf der Flucht verschollener tunesischer Jugendlicher.

In Palermo besuchte die Delegation eine Abschiebehaftanstalt, eine Gemeinschaftsunterkunft, eine Wohngruppe von AsylbewerberInnen und ein multikulturelles Zentrum. Die Delegation diskutierte mit NGO’s, die den Umgang staatlicher Stellen mit Flüchtlingen beobachten und deren medizinische Betreuung organisieren sowie mit dem Bürgermeister von Palermo Leoluca Orlando, mit leitenden MitarbeiterInnen der Stadtverwaltung sowie dem Rat der Migrantenorganisationen in Palermo.

In Tunesien wurde deutlich, dass die relativ geringe Zahl von knapp 1.000 offiziell registrierten Flüchtlingen eher wenig mit der Realität in dem Land mit 10 Millionen Einwohnern zu tun hat. Schätzungsweise leben heute in Tunesien noch etwa 500.000 (andere Schätzungen gehen von 1 Million aus) Libyer, die vor den dortigen Auseinandersetzungen geflohen sind. Deren Integration in die tunesische Gesellschaft verläuft jedoch weitgehend unkompliziert. Deutlich wurde jedoch auch, dass auf Grund der sehr rigiden Grenzsicherung Tunesiens die meisten Flüchtlinge aus der Sub-Sahara und den nordafrikanischen Ländern über Libyen versuchen, nach Europa zu gelangen. Dies trifft im Übrigen auch für die relativ geringe Zahl von Tunesiern zu, die beim illegalen Verlassen ihres Landes mit Gefängnisstrafe bedroht werden.

Auf der Route Libyen – Italien gab es allein im letzten Jahr mindestens 2.500 ertrunkene Flüchtlinge, seit der Katastrophe von Lampedusa mehr als 5.000. Damit ist dieser Flüchtlingsweg der mit Abstand tödlichste auf dem Weg nach Europa.

Im letzten Jahr gelangten über diesen Weg etwa 120.000 Menschen nach Italien, die meisten davon nach Sizilien. Ein großer Teil davon wird dort mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch nicht erfasst. Es gibt Berichte darüber, dass ein Teil davon faktisch unter Gefängnisbedingungen in sizilianischen Landwirtschaftsbetrieben arbeitet.

Teilweise organisiert die italienische Regierung Rückführungen, wenn es mit den jeweiligen Ländern (z.B. Marokko) Rückführungsabkommen gibt. Häufig scheitert dies jedoch in der praktischen Umsetzung. Italien geht von einer strikten Trennung zwischen Wirtschaftsmigranten und Flüchtlingen aus und versucht, diese Einteilung zukünftig in so genannten HotSpots innerhalb von 48 Stunden nach Ankunft von Flüchtlingen umzusetzen.

Einen völlig anderen Weg beschreitet man in der Kommune Palermo, die mit der verabschiedeten Charta von Palermo für die grundsätzliche Freizügigkeit aller Menschen eintritt. Demnach sollen Aufenthaltsgenehmigungen und Einreisebeschränkungen aufgehoben werden, um damit auch eine normale Arbeitsimmigration zu ermöglichen. Diese Charta, die eng mit dem Bürgermeister und als Mafia-Jäger bekannt gewordenen Leoluca Orlando verbunden ist, ist die Schlussfolgerung aus den unmenschlichen Zuständen, die zur Zeit an den Außengrenzen der Europäischen Union herrschen, die sich in radikaler Art und Weise von dem Mainstream der Abschottungsdiskussion in der EU unterscheidet.

Magdeburg, im Oktober 2015