Ministerpräsident am Wackeltisch

von 25. Februar 2010

Unten gibt es Zigaretten, Postkarten und Tinnef, oben Bücher, Musik-CDs, Elternratgeber und Kinderspielzeug. Das ist “Ulrichs Medienwelt“, und heute gibt es dort noch den Ministerpräsidenten. Gut besucht ist der Verkaufsraum im Obergeschoss, frei geräumt bietet er immerhin Platz für ca. 70 zumeist ältere Hallenser. Als Podium dient ein kleiner wackliger Kaffeetisch, der Ministerpräsident wird auf einem Stühlchen herangerückt, “Nabend” sagt er, ein Security-Mann beäugt die Warenauslage und der Moderator fummelt dem Ministerpräsidenten das Headset um den Kopf. Seit Oktober letzten Jahres ist das Buch auf dem Markt “Lieber die unbarmherzige Wahrheit als eine barmherzige Lüge“. Es ist keine Autobiographie, auch kein Manifest. Es sind Reden, die Böhmer im Laufe seines Schaffens gehalten hat, und die, wie er sagt, seine Regierungssprecherin Monika Zimmermann irgendwann für wert befunden hat, als Buch zu veröffentlichen. Gelbe Klebezettel hat sie ihm reingemacht, aus vier Reden wird er lesen. Nein, er ist bescheiden – selbst geschrieben hat er sie nicht alle, da habe er kluge Leute für, sagt er, aber gehalten hat er sie schon selbst, und er hält sich auch manchmal an das Manuskript, sagt er, als Anregung. Die erste Rede berührt gleich grundsätzliches. Gehalten hat er sie zum 17. Juni, in die er “Allgemeine Gedanken zur Demokratie” mit eingeflochten hat. Um das Lob der Ungleichheit geht es. “Der Reichtum der Gattung Mensch ist, dass wir alle ungleich sind“. Wer seine folgenden Ausführung falsch verstehen will, kommt dann auch gleich auf seine Kosten. Da geht es um Gleichmacherei (nicht so gut), Mindestlöhne (schwierig, dürfen nicht verordnet werden, sondern müssen die Tarifpartner aushandeln), Spargelstecher (kaufen mit ihren Mindestlöhnen den Spargel und verkaufen ihn gewinnbringend in Polen), und überhaupt müsse sich Leistung lohnen. Aber man müsse vor allem darauf achten, dass in der Leistungsgesellschaft niemand unter die Räder komme.

Im zweiten Kapitel geht es um die Frage, ob man mit Werten führen könne. Muss man. Sein Bekenntnis: “Führen ohne zu befehlen“. Auch Sekundärtugenden seien wichtig, aber leider unangenehm, wie Pflicht und Pünktlichkeit. Gerechtigkeit? Ganz schwierig. Bis heute könne niemand soziale Gerechtigkeit erklären. Chancengleichheit sei auch wichtig, aber ganz schwieriges Thema. Die Menschen haben da unterschiedlichen Bildungshintergrund, und dann gibt es da auch noch die Erbmasse. Chancengleichheit ja, aber ohne Gleichmacherei. Solidarität ist wichtig, wenn die Leistungsgesellschaft auseinanderdriftet.

In der dritten Rede geht es dann um die Bibel, dem Ministerpräsident gefallen da die alten Übersetzungen, die neueren, im Zeitungsstil, geben ihm nichts. Viel historische Erfahrung stecke in diesem Buch, und immerhin sei es in über 1900 Sprachen übersetzt worden. Das Publikum will dann noch was Nettes hören, “Genscher, Genscher” ruft eine ältere Dame aus dem Publikum. Ja, die Genscherrede, die er mal gehalten hat. Da erzählt er, wie er Genscher getroffen hat, und sogar mit ihm nach Washington zu Bush Senior fliegen durfte. Das war 1991 und sehr beeindruckend, weil der Außenminister unaufhörlich nette Geschichten erzählt habe.

Als Zugabe verrät der Ministerpräsident dann noch, wie er auf so manche dumme Frage nach seinem Privatleben reagiere. Zum Beispiel Frühaufstehen (immer um sechs, kein Problem). Wie er in die Politik geraten ist (dachte, der Landtag sei so etwas wie der Bezirkstag, da trifft man sich mal alle drei Monate) und wie ans Briefmarkensammeln.

Dann endlich Fragen aus dem Publikum, nein, erst einmal muss der Veranstalter und Verleger zwei Fragen loswerden. Die Kopfprämie von Herrn Rösler? “kriegt der nie hin“. Spätrömische Dekadenz? Da holt Böhmer Luft. Wehrt sich gegen diese oberflächliche “Schmarotzerdiskussion“. Westerwelle habe das Klima vergiftet, hier wehrt sich der Staatsmann vehement. Ab hier vergisst er sein Buch mit Klebezetteln, reagiert spontan, und überraschend offen. Nach der Staatsverschuldung wird er aus dem Publikum gefragt, und jetzt überrascht der Ministerpräsident mit spontanen und unkonventionellen Antworten. Man werde nicht umhin kommen, die Werthaltigkeit des Geldes abzubauen, und entwirft dabei kenntnisreich die brüchige Entwicklung des Geldmarktes nach 1944 und ihre Folgen.
Wer Wolfgang Böhmer in ein festes Schema einordnen will, wird an dessen unvorhersehbaren Ecken und Kanten scheitern.