Postgeheimnis? Die Stasi und Briefe der Hallenser

von 16. Mai 2010

ZDF-Hitparade, Radio-Sendungen des NDR, Maggi Kochstudio oder Fanpost für Howard Carpendale – zahlreiche Briefe erreichten diese Adressaten nie. Die Postkontrolle der Staatssicherheit hat sie aussortiert. Auch 20 Jahre nach der Wende sind die Durchsuchungsmethoden noch ein Thema. Das zeigte sich zur Museumsnacht, als der Vortrag “Postgeheimnis? Die Stasi und die Hallenser Briefe” total überlaufen war.

Nun ist es gelungen, den Referenten Rüdiger Sielaff aus der BStU-Außenstelle Frankfurt/Oder nochmals zu gewinnen! Er wird seinen Vortrag am 19. Mai 2010 um 18 Uhr in der hiesigen Außenstelle in der Blücherstraße noch einmal halten. Ebenso wird die zur Museumsnacht aufgebaute Ausstellung, die die Arbeitsschwerpunkte der Postkontrolle des ehemaligen MfS veranschaulicht, im normalerweise nur wenigen Mitarbeitern des Hauses zugänglichen Kellerbereich an diesem Tag ab 16.30 Uhr für Interessenten zugänglich sein. Nicht erwähnt werden muss eigentlich, dass es auch bei dieser Gelegenheit wieder die Möglichkeit gibt, einen Antrag auf persönliche Akteneinsicht zu stellen. Dazu bitte den Personalausweis mitbringen. Für die Beantwortung von Fragen rund um die Akteneinsicht stehen Ansprechpartner aus der Außenstelle bereit.

Die Überlieferungslage von Unterlagen der für die Postkontrolle zuständigen Abteilung M der BV Halle kann im Vergleich zur Situation in den Archiven anderer Bezirksverwaltungen des MfS als gut eingeschätzt werden. Weder bei der BStU-Außenstelle Magdeburg noch im Land Brandenburg in den Beständen der ehemaligen BVn des MfS Potsdam, Frankfurt oder Cottbus ist ein ähnlich umfangreicher Bestand vorhanden, der aus Sachakten, Kader- und Schulungsakten der Mitarbeiter der Abt. M, Akten von IM der Abteilung M und Karteien besteht.

Die Erfassungskartei für die Postkontrolle (M-Kartei) liegt im Originalzustand vor, insgesamt in einem Umfang von 361 Regalmetern. Die Anzahl von ca. 288.000 Karteikarten entspricht einer Erfassung von jedem vierten Einwohner des ehemaligen Bezirkes. In der M-Kartei Halle befinden sich alle Ortschaften von A wie Aschersleben bis Z wie Zeitz.
Da auf den Karteikarten oft mehrere westdeutsche Absender oder Empfänger aufgetragen sind, kann man davon ausgehen, dass allein in der M-Kartei Halle deutlich mehr als 600.000 Personen erfasst sind.

Generalmajor Strobel, Leiter der Postkontrolle im Ministerium für Staatssicherheit Berlin am 09. November 1989:
„Für unsere politisch-operative Arbeit fehlte … eine eindeutige gesetzliche Grundlage, wie sie Artikel 31, Absatz 2 der Verfassung fordert. …In Anbetracht der Lage hat der amtierende Minister … am 08.11.1989 entschieden, die Außenstellen der Abteilung M mit sofortiger Wirkung zu schließen, was zur Folge hat, dass die politisch-operative Tätigkeit der Abteilung M vorläufig eingestellt werden muss. … die Außenstellen (sind) so zu räumen, dass nichts auf Charakter und Umfang der Tätigkeit der Abteilung M hinweist.“

Das Postgeheimnis wurde in den Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 ausdrücklich anerkannt. Tatsächlich aber wurde es permanent durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ohne eine entsprechende gesetzliche Regelung verletzt.
Zuständig für die Postkontrolle war die Abteilung M des MfS, die sich auch in den Bezirks-verwaltungen wiederfand. Sie gehörte zu den frühesten Strukturen des MfS und wurde bereits 1950 gegründet. Während von Beginn an Briefe, Telegramme, Pakete im Auslands-postverkehr kontrolliert und ausgewertet wurden kommt ab den 70er Jahren die systema-tische Überwachung des Postverkehrs innerhalb der DDR hinzu.

Die Installierung der Postkontrolle in Halle bedeutete eine umfassende ortsnahe Kontrolle der Bürger und ihrer Haltungen, Gedanken und Ideen. Das war – trotz immer wieder anders-lautender interner Postulierung – das Hauptziel der Postüberwacher.
Die Abteilung M der Bezirksverwaltung war als „Dienstleister“ für alle anderen Abteilungen und Kreisdienststellen im Bezirk Halle tätig. Die Spitze des Eisberges der Postüberwachung war die konkrete Adressenfahndung nach Absender- oder Empfängeranschriften. Letzter Leiter der Abteilung M in der MfS-Bezirksverwaltung Halle war ein MfS-Mitarbeiter mit dem Namen Portius, zuvor ein Oberstleutnant Herfurth.

Die Abt. M befand sich mit spezifischen Referaten und Arbeitsbereichen direkt in der BV der Stasi Halle, hatte aber legendierte Außenstellen in „zentralen Objekten der Deutschen Post und der Zollverwaltung der DDR“. Ausschließlich Mitarbeiter der Abteilung M durften die Post kontrollieren. Anderen operativen Mitarbeitern anderer Diensteinheiten war ausdrücklich untersagt, unter Umgehung der Abt. M, Postkontrollen einzuleiten oder durchzuführen.

Außenstellen der Abt. M befanden sich in Dessau, Zeitz u. – zusätzlich zur Abt. M in der BV – an anderen Orten in Halle, definitiv im Bahnpostamt. Ein externes Objekt der Abt. M trug den Decknamen „Objekt A“. In den Dienststellen der M werden Postsendungen durchleuchtet, geöffnet, gelesen, nach Geheimschrift (GS) und geheimen Botschaften durchsucht. In großem Umfang wird – von Mitarbeitern mit Kitteln ohne Taschen – Geld entnommen, obwohl die Absender mit Alufolie und Blaupapier ein Durchleuchten der Briefe verhindern wollten – gerade deshalb wurde ein Brief geöffnet. So werden allein in Halle im 2. Quartal 1986 mehr als 38.000 DM einbehalten, zusätzlich andere westliche Währungen, aber auch tschechische Kronen, ungarische Forint und im großen Umfang Mark der DDR (14.575). Schriften werden analysiert und gespeichert, Adressen und Personen zehntausendfach überprüft.

Wie überall in der DDR interessiert sich die Stasi für Liebesverhältnisse mit Partnern aus dem „NSA“ und liest Liebesbriefe besonders intensiv. Manche Briefe erreichen die Lieben-den nicht.
Das MfS in Halle verfügt für diese Arbeit über eine hoch-technische Ausstattung mit auto-matisierten Brieföffnungsgeräten und –anlagen, Durchleuchtungsgeräten und –tischen, Schließmaschinen (SM 381), Schräglichtuntersuchungstischen (SUT 1), UV-Untersuchungs-geräten und teils mobilen Röntgengeräten … Für die mobile Postkontrolle außerhalb der BV steht ein Einsatzkoffer mit einem Kalt- und einem Heißdampfgerät zur Verfügung.

Die Abt. M der BV führte zusätzlich zu ihren hauptamtlichen Mitarbeitern eigene inoffizielle Mitarbeiter, die insbesondere „an der Nahtstelle des Zusammenwirkens mit den Koopera-tionspartnern“ eingesetzt waren. Ihre Decknamen lauten „Angler“, „Bastler“, „Elfriede“, „Christel“ oder „Jürgen Voigt“.
Sie berichten über Abläufe in den Briefverteilämtern, liefern Schriftproben, Personal-aus-weisanträge aus den VPKA und sollen mitteilen, was die Mitarbeiter der Post von den Stasi-Kontrollen der Briefe mitbekommen.
Die Stasi erfährt von ihnen, dass die „Stelle 12 im Bahnpostamt ein offenes Geheimnis ist“ und von den Mitarbeitern der Post inoffiziell als „Konsum“ bezeichnet wird.
Der IM „Angler quittiert am 20.11.1989 noch einmal 150 Mark Prämie vom MfS und hält in seinem letzten Bericht fest, dass „(uns am) 13.11.1989 bei Dienstbeginn mitgeteilt (wurde), dass ab 13.11.89, 5:00 Uhr die PZF (Postzollfahndung) in ihrer existierenden Arbeitsform nicht mehr tätig wird. … Dass die PZF nicht mehr existiert, wurde von allen Kollegen als positiv gewertet.“

In den Unterlagen der Postkontrolleure finden sich Briefe mit ausschließlich privaten Briefinhalten ohne jeden politischen Bezug, so von Petra und ihrer Familie aus dem Block 752 in Halle-Neustadt an die „liebe Tante Leni“. Das MfS fertigte Fotos vom Brief und dem Briefkuvert und ergänzte die angelegte Karteikarte um alle Daten zu den Briefschreibern. Nach Wien in die Edergasse geht die Post einer Frau aus Halle im Langen Feld. Sie war gerade Rentnerin geworden und durfte erstmals in den Westen reisen. Der Grund, warum das MfS diesen Brief einbehielt, dürfte eine Treffverabredung mit der Verwandtschaft in München sein.

Außerdem finden sich unzählige Fahndungsadressen Hallenser Bürger aus der Pestalozzistraße, der Voßstraße, den Blöcken 844, 985, 334 und 344, 576, 003, 327, der Wielandstraße, der Benkendorfer Straße, dem Passendorfer Weg, der Gaußstraße, Budapester Str., Böllberger – und Advokatenweg, Schleiermacherstr., Landrain, Am Krähenberg, Thomasiusstr., Neuglück, Torstraße, Habichtsfang, Gronauer Str., Fuchsienweg …

Bürger des Bezirkes Halle waren offensichtlich begeisterte Schreiber von Briefen an Westdeutsche Radio-Sender. Musikwünsche, Bitten um Übermittlung von Grüßen bzw. Glückwünschen, Autogrammwünsche und Rätselauflösungen wurden von der Stasi notiert. Die Gründe des Anschreibens von Deutschlandfunk und ZDF sind immer die gleichen: Es geht um Musik, Autogramme, Sport. … Erstaunlich ist die Überlieferung einer großen Anzahl von Originalbriefen aus dem ehemaligen Kreis Gräfenhainichen, darunter Post der Orte Schköna, Kakau, Radis und Gräfenhainichen selbst.

Anni, die Landwirtin aus Kakau, findet beim Mähen ihrer Wiese in Horstdorf, Luftpost aus Goslar und antwortet darauf – aber vergeblich. Ines aus Rehsen ist erst in der 6. Klasse. Sie ist 12 Jahre alt, als sie einen Brief an Rosi schreibt. „Ich habe die Karte zwischen Dessau und Wittenberg gefunden, in dem Dorf Rehsen. Es ist die Karte mit dem Ballonweitflugwettbewerb. Wenn Du Lust hast, schreib mal. Auf Wiedersehen.“ Monika aus Gräfenhainichen wird lange am Radio gesessen haben, um an ihrem 35. Geburtstag das Lied von Andy Borg zu hören „Die berühmten drei Worte“. Es war der Wunsch ihres Mannes, der diese Karte an einen Sender in Köln schickte.

Warum dies alles? Der Leiter der Postkontrolle der Abteilung M in Halle stellt am 31.10.1989 ernüchternd fest: Es „muss eingeschätzt werden, dass es trotz eines schwer-punktorientierten Kräfte- und Mitteleinsatzes nicht gelungen ist, (auch nur) eine Verbindungslinie imperialistischer Geheimdienste aufzuklären.“ Von fast 10 Mio. in unterschiedlicher Intensität „vorgeführten“ und überprüften Postsendungen des Zeitraumes 01.06.89 bis 31.10.89 war nicht einer der Überprüfung „würdig“. Hingegen hatte die Abteilung M des MfS Halle unzählige andere Informationen zu Treffen, politischer Opposition, Unzufriedenheit mit der Versorgungslage, Liebesbeziehungen, zu Ausreisewilligen, Glaubens- und Kirchenfragen, Fan- und Hobby-Verbindungen … erarbeitet und an die Diensteinheiten weitergeleitet.