Vom Wert des Lächelns

von 5. Februar 2011

Die naive Vorstellung, der Mensch unterscheide sich vom Tier durch die Fähigkeit des Denkens, widerlegt sich von selbst, wenn man einige Vertreter unserer Spezies eines genaueren Blickes würdigt. Denken geht heutzutage zur Erlangung von Vorteilen vonstatten. Das ist nicht eben viel, aber anstrengend, weil Vorteile nicht auf der Straße liegen. Hat Mann/Frau den Vorteil gewonnen, muss Vorsorge getroffen werden, sonst ist er wieder zerronnen.

Was aber den Menschen wirklich vom Tier unterscheidet ist seine Lust zu lachen oder, um die feinere Nuance zu erwähnen, seine Möglichkeit zu lächeln. Das Lächeln eines Menschen drückt eine heitere Gelassenheit aus. Seine Sorgen, so glaubt er im Moment des Lächelns, werden ihn nicht erdrücken. Er erfreut sich an den Strahlen einer milden Sonne oder an zärtlichen Regentropfen aus grauem Himmel, die seine Haut laben. Sein Herz ist frei, seine Gedanken leicht und fröhlich. Kein Zahnschmerz plagt ihn, die Vergangenheit belastet ihn ebenso wenig wie die Zukunft. Und der heutige Tag ist ihm eine Freude.

Geht man nun vom Bahnhof über den oberen und unteren Boulevard und über den Markt begegnen dem Reisenden viele Menschen, die meisten von ihnen Hallenser. Und der Reisende entdeckt: Es gibt in Halle viele schöne Häuser von reicher Architektur, aber die Menschen lächeln nicht. Warum, fragt sich der Reisende, blicke ich hier nur in ernste Gesichter? Die Stadt hat ein liebenswertes Antlitz, das scheint seine Bewohner nicht zu freuen. Was drückt sie denn? Haben sie eine schlechte Regierung und sind deshalb so zerknittert? Oder droht ihrer Stadt ein Unheil, welches der Fremde nicht zu erkennen vermag? Ist die Stadt gar von den Hunnen besetzt und gedemütigt worden? Haben Nazis in dieser Stadt das Heft in der Hand?

Mit einem Lächeln fragt der Reisende einen der Passanten nach dem Weg. Aber der lächelt nicht zurück, sondern betrachtet den lächelnden Reisenden mit dem Hintergedanken, der könne aus einer psychisch heilenden Anstalt ausgebrochen sein und weist ihm mürrisch den Weg.

Das könnte doch mal Thema einer Stadtratssitzung sein: Warum lächelt der Hallenser nicht?

Dem steht natürlich entgegen, dass auch im Stadtrat nicht gelächelt und dieses Thema angesichts der Haushaltslage als zu gering erachtet wird. Wir haben eben nichts zu lachen.

Da stimmt irgend etwas mit der Seele dieser Stadt nicht, denkt der Reisende, ein Schatten liegt auf ihr. Denn wie sagte Charlie Chaplin: „Jeder Tag, an dem du nicht lächelst, ist ein verlorener Tag.“ Oder, philosophischer, der alte Marc Aurel: „Der Tod lächelt uns alle an, das einzige was man machen kann ist zurücklächeln!“

Friedrich Ohnzorn