Wie die Mauer in den Köpfen entsteht …

von 28. Januar 2011

Es war der 9. November 1989, als ein bis dato völlig unbekanntes Wesen das Licht der Welt erblickte und durch ein Loch in der Berliner Mauer scharenweise den erschrockenen deutschen Westen überfiel: der Ostdeutsche. Bekanntlich existiert er bis heute als Wunderspezies in den Medien. Aber warum nur? – Dieses Buch verrät es.

Oder besser: Es erforscht, wie es zur Entstehung des Bildes vom Ostdeutschen in den Medien kam. Denn nach allen wissenschaftlichen Erhebungen gehört das Tier, das da auch gern "Ossi" genannt wird, ins Reich der Fabel. Oder in ein mittelalterliches Bestiarium, gar den irgendwann vor 1.900 Jahren entstandenen Physiologus, in dem so eigenartige Tiere vorkommen wie das Einhorn oder der Phönix. Aber auch real existierende Tiere wie der Pelikan oder der Wal – nur dass die Autoren dieser Bestiarien das mythische Geschöpf nie mit eigenen Augen gesehen haben, es nur vom Hörensagen kannten und das Gehörte mit allerlei Deutungsmustern aufluden.

Das funktionierte nicht nur in Zeitaltern, in denen Nachrichten zumeist auf mündlichem Weg unterwegs waren und Monate, wenn nicht gar Jahre brauchten, um den Schreiber zu erreichen. Es funktioniert auch heute noch so. Denn nicht nur die Seemannsgarn spinnenden Fahrensleute gehören dazu, einem im Grunde simplen und friedlichen Geschöpf eine sagenhafte Gestalt zu verpassen, auch die Freude der Schreiber selbst am Fabulieren und Ausschmücken gehört dazu. Und noch ein paar Dinge, die moderne Medien zu dem machen, was sie sind: Deutungsraster, Geschwindigkeit und Knalleffekt.

Der vorliegende Band enthält die Beiträge eines Projektworkshops, der 2007 am Institut für Geschichte der Universität Wien statt fand (auf "neutralem Boden" also). Drei Jahre lang hatten sich Forscher aus verschiedenen Disziplinen mit dem Thema "Die diskursive Konstruktion 'der Ostdeutschen' in westdeutschen und österreichischen Medien als Quelle für kollektive Alteritäts- und Identitätsdiskurse" beschäftigt.

Klingt hochwissenschaftlich. Heißt aber ganz simpel: Wie haben vor allem westdeutsche Medien ihr Bild von den Ostdeutschen geschaffen, wie hat sich das Bild verändert und wie wirkt das Bild bis heute in der gesellschaftlichen Diskussion?

Grundlage dafür ist die schlichte Tatsache, dass es fast ausschließlich im Westen Deutschlands beheimatete "Meinungsbildner" sind, die erstens für sich selbst definiert haben, was "ostdeutsch" ist, und zweitens damit die gesamtdeutsche Sicht auf die seltsame Spezies der Ostdeutschen bis heute prägen. Denn bis heute sind es dieselben Medien, die den gesamtdeutschen Diskurs bestimmen – große Tageszeitungen wie FAZ und Süddeutsche, das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, die Wochenzeitung Die Zeit, die großen öffentlich-rechtlichen und privaten Sender, das Boulevardblatt Bild, seltener die tageszeitung (taz).

Die Forscher, die in diesem Band zu Wort kommen, sind an den verschiedensten Hochschulen zu Hause – in Wien, in Jena, Berlin, München – oder sie arbeiten gar gleich an der Quelle wie Christian Kolmer bei Media Tenor in Bonn und Zürich. Der Verdacht, man könne hier eine bestimmte Schule von Soziologen vor sich haben, die nur eine Lehrmeinung gelten lassen, wäre also nicht begründet. Und dem Thema nähern sie sich – anders als die meisten Journalisten – nicht mit einer fetzigen Glosse aus der sicheren Distanz, sondern sie sind allesamt in die Archive der Zeitungen und Fernsehkanäle gegangen, haben herausgesucht, was zum Thema "Ossi" (und "Wessi") wann und wie veröffentlicht wurde, haben die unterschiedlichen Sichtweisen der Medien auf das Thema verglichen. Wissenschaftliche Geduldsarbeit, die am Ende aber belastbare Zahlen ergibt und sichtbar macht, wie die Schaffung eines Kunstkonstrukts in bundesdeutschen Medien funktioniert.

Eine wesentliche These hat sich bei allen Untersuchungen bestätigt: Es sind westdeutsche Medien, die den Diskurs bestimmen. Bis heute. Und dadurch entsteht auch das wichtigste Grundmerkmal des "Ostdeutschen": Es ist eine Definition des Anderen und Fremden, in der sich zuallererst der west-deutsche Journalist seiner selbst vergewissert. Und zwar – wie gerade die Beiträge aus den frühen 1990er Jahren zeigen – vor allem als Zuweisung bestimmter Eigenschaften, die "den Ostdeutschen" zu einer homogenen Masse machen – und zu einer Spezies, die sich unterscheidet – von den (West-)Deutschen.

Ein Effekt, der verstärkt wird durch die geringere Präsenz Ostdeutschlands in den meinungsführenden Medien, ablesbar an den über die Jahre konstant geringen Anteilen an der Berichterstattung. Nur besonders medienträchtige Ereignisse wie das Gipfeltreffen in Heiligendamm machen den Osten für einen kurzen Moment zu einem wahrnehmbaren Schauplatz der Ereignisse. Doch schon als die Staatsgäste wieder abgereist und die Scheinwerfer abgebaut waren, versank der ganze Landstrich wieder im Nirwana der medialen Nichtbeachtung.

Und da tritt dann Effekt Nummer 3 in Kraft: Dann entscheidet allein der Meldungscharakter, ob der Landstrich wieder Erwähnung findet, da funktioniert dann nur noch das simple Auswahlmuster der Agenturen – die in den deutschen Tageszeitungen für mehr als 50 Prozent aller Meldungen verantwortlich sind. Und das heißt: Sex & Crime. Es muss knallen, ein Skandal muss her oder eine möglichst schlimme Mordserie, dann schafft es die Nachricht in die News.

Ergebnis: Über 40 Prozent aller Nachrichten aus dem Osten Deutschlands beschäftigen sich mit Gewalt, der größte Teil davon mit rechtsradikaler Gewalt. Gleich danach gibt's nur noch ein Thema, das die Redaktionen für wichtig halten, wenn sie aus dem Osten berichten: Geschichte oder besser – DDR-Vergangenheitsbewältigung. Ein bisschen Politik gibt es noch und schon beim Thema Wirtschaft/Arbeit geht es fast ausschließlich nur um Arbeitslosigkeit.

Was auch wieder seine Logik hat: Die großen Konzernzentralen, die aller drei Monate neue Quartalszahlen produzieren (oder irgendwelche netten Bonus-Geschichten) haben ihren Sitz fast alle in West-Deutschland oder Berlin. Und so formt sich für den Mediennutzer ein nach wie vor seltsames Bild über den deutschen Osten, in denen Neonazis, Arbeitslose und Täter aus DDR-Zeiten die Hauptrolle spielen. Und auch wenn in einigen Medien – wie etwa beim Fernsehmagazin "kontraste" – über die Jahre eine Änderung des Bildes nachweisbar ist, in der Gesamtschau wirken die Stereotype auch 20 Jahre nach dem ebenfalls zum Stereotyp gemachten "Mauerfall" wie erstarrt, platt und wie eine neue Mauer. Nicht nur in den Köpfen der Redakteure, die immer wieder dieselben (durch Umfragen und Statistiken zumeist widerlegten) Vorurteile wiederholen, sondern auch im öffentlichen Diskurs der Republik, den die meinungsbildenden Medien dominieren. Hier vergewissert sich die politische Elite, ob sie "richtig tickt". Hier holt sich die Wirtschaftselite genauso ihre Informationen wie ein Großteil der West- und Ostdeutschen.

Mit der kleinen Einschränkung: Gerade die großen westdeutschen Zeitungen klagen bis heute über geringe Leserzahlen im Osten. Aus gutem Grund: Natürlich fühlen sich ostdeutsche Leser in diesen Zeitungen selten bis nie wieder. Es entsteht ein bedenkenswerter Effekt: Westdeutsche Redaktionen bestimmen, wie sich die Ostdeutschen zu sehen haben. Das kann nicht funktionieren.

Änderung ist nicht in Sicht. Die Autoren belegen auch mehrfach, dass der Begriff des Westdeutschen oder "Wessis" keineswegs so gattungsspezifisch genutzt wird wie der des "Ossis". Hier wird differenziert, werden dem Akteur Persönlichkeit, Selbstbestimmung und Tatkraft zugeschrieben. Anders als dem "Ostdeutschen an sich", der ja irgendwie bis heute unter der Kollektivsozialisation von gestern leidet, nicht teamfähig ist, mit Geld nicht umgehen kann und darauf wartet, dass die tollen Entwicklungshelfer aus dem Westen die Karre aus dem Dreck ziehen.

Was ist daraus geworden? Haben sich allein die viel gelobten Bürgerrechtler diese Attribute angeeignet? Oft genug scheint es so. Und im Ordensregen des Herbstes 2009 war gar nichts anderes mehr zu sehen von den einstigen DDR-Bürgern. Kein einziger Unternehmer made in East, kein Künstler, kein Wissenschaftler, kein Sportler. Sicher: In einer Anekdote nennt man das dann die Reduktion auf das "Nötige". Das Nötige nämlich, um die Anekdote so kurz und pointiert zu erzählen, wie es nur geht.

Doch weder die (Wieder-)Vereinigung ist eine Anekdote, noch ist es die Existenz von fünfeinhalb durchaus verschiedenen Bundesländern im Nordosten der Republik. Die Mauer ist tatsächlich abgebaut worden, existiert nur noch in musealen Resten, die so mancher gern wieder hingestellt sähe, wenn er die (von Agenturen gesiebten) Nachrichten aus dem Osten sieht. Fast jeder zweite Einwohner der südlichen und westlichen Bundesländer war bis heute nicht im Gebiet der ehemaligen DDR. Viele ganz gewiss abgeschreckt von einer Berichterstattung, die da zwischen Harz und Oder einen Menschenschlag vermuten lässt, der noch rückständiger ist als die Bewohner des Neandertals.

Es sind bis heute deutsche Medien, die aus diversen (in diesem Band nicht hinterfragten) Gründen ihre Vorurteile über die Ost-Deutschen und "den Ostdeutschen" pflegen. In ihren Kommentaren lebt dieses versoffene, faule, undankbare Geschöpf, nicht hinterfragt, nicht differenziert. So wird "die Mauer" fast täglich neu errichtet, wird so getan, als liefe da ein Graben quer durchs Land, an dem sich die Guten von den Hinterwäldlern scheiden. Das hat nichts mit all den sinnlosen Debatten um "innere" oder "äußere Einheit" zu tun.

Wahrscheinlich würden wirklich neugierige Reporter beim Vordringen in die Wildnis entdecken, was Soziologen schon längst wissen: Die "terra incognita" dort im fernen Osten gehört auf schnöde Weise einfach dazu zu dieser Bundesrepublik, die sich einer Vereinigung (wie Geschichtsinteressierte wissen) 1990 verweigert hat. Man hat der kleinen de Mazière-Regierung einen bedingungslosen Beitritt abgefordert und wahrscheinlich gehofft, damit lösen sich diese schrecklichen 17 Millionen einfach auf im großen Bauch der Bundesrepublik.

Das haben sie aber irgendwie nicht getan. Was nun? Das können die Forscher natürlich nicht sagen. Sie können nur zeigen, wie die Mauern in den Köpfen funktionieren. Es sind die Medienhäuser selbst, die lernen müssen, die selbst errichteten Mauern wieder abzubauen. Die nicht nur ängstliche West-Deutsche am Besuch der östlichen Bundesländern hindern, sondern auch Investoren. Oder anders formuliert: Was mit viel Fördergeld aufgebaut wird, reißen ein paar mauerverliebte Medien tagtäglich wieder ein. Psychologie nennt man das. In manchen Regionen der Welt nennt man es auch Voodoo.

(Ralf Julke / l-iz.de