Wo bleibt denn hier das Negative?

von 22. Januar 2011

Beim obligatorischen Neujahrsempfang hat die hallesche Oberbürgermeisterin eine Rede gehalten, die im Anschluss schön gerollt und mit Schleifchen versehen an die Gäste verteilt wurde. Man kann sie sich also an den Spiegel nageln, um immer wieder zu lesen, dass Halle sozusagen eine blühende Landschaft wird, nur eben eine blühende Baulandschaft. Blühende Landschaften sind uns ja schon einmal versprochen worden und der sie versprach, hat durchaus Wort gehalten: Die Landschaft blüht, die Industrie ist weg, was aus ökologischen Gründen durchaus Sinn macht.

Diese Rede der OB zu erwähnen, ist eigentlich schon zu viel der Ehre. Denn es fehlt das Negative. Wenn Regierungen nicht mehr weiter wissen, werden sie realitätsblind. Das war auch in der Ehemaligen so, Gott hab sie selig. Das Positive aber ist reine Propaganda. Wenn die Welt nicht so ist, wie wir sie uns wünschen, dann reden wir uns ein, wie sie sein sollte – damit die Motivation nicht flöten geht und die Menschen an etwas glauben können. Nach dem alten Gedanken, der Glaube könne Berge versetzen.

Wer nicht glauben will, geht in eine Kneipe. Ich wage zu behaupten, das Anzahl und Zustand der Kneipen einer Stadt Gradmesser ihres kulturellen Niveaus sind. Kneipen befördern die Kommunikation, sieht man mal ab vom politischen Stammtischgequassel. Hier treffen sich die Bürger noch und lassen sich lieber gemeinsam vom Bier als allein von Maischberger das Gehirn vernebeln. Ein Kneipenbesuch schafft auch Arbeitsplätze.

Deshalb an dieser Stelle eine Würdigung und ein Gratulation.

Strieses Biertunnel im Neuen Theater wird am Montag 20 Jahre alt. Der erste Wirt war der Revolutionär Mathias Waschitschka, der mit der Kneipe auch der Revolution den Rücken gekehrt hat. Seit vielen Jahren kümmert sich Michael Neubauer um das Wohl seiner trinkfreudigen Gäste. Im Striese gab sich einst die Prominenz des Landes die Klinke in die Hand, Schauspieler haben, wenn auch manchmal widerwillig, die Gäste unterhalten, Stammgäste holten Ihre Bierkrüge aus den Schließfächern, es wurde ordentlich Skat gespielt, Werner Meyer hat dort die neuesten Schlagzeilen für seine Bild-Zeitung gesammelt.

Mit dem Niedergang des nt ist das alles ein bisschen anders geworden. Aber die Kneipe ist immer noch voll, die Gäste manchmal auch, und sie hat von ihrem urigen Charme nichts verloren. Solange es solche Kneipen gibt, weiß ich, das kulturelle Leben der Stadt ist noch nicht ganz am Boden zerstört.

Oder, um es mit Horneck von Schenkenbruchs berühmten Versen zu sagen:
Trinke nie ein Glas zu wenig,
Denn kein Kaiser oder König
Kann von diesem Staatsverbrechen
Deine Seele ledig sprechen.

Lieber eins zu viel getrunken,
Etwas schwer ins Bett gesunken,
Und darauf in stiller Kammer
Buße tun beim Katzenjammer.

Friedrich Ohnzorn