Alte Neustädter fordern: Deich schnell weiterbauen!

von 7. Juni 2015

Bevor die scheinbar friedliche Runde ihre Meinungsfreiheit auslebt, zerstören einige aggressive Bürger aus ihrem Kreise das Transparent eines Gegendemonstranten, pöbeln gegen ihn und fordern, ihn vor den Kopf zu hauen und zu entfernen. Der Attackierte, Ralf Schaum von der Interessengemeinschaft Halle-Saale-Schleife, bleibt auch trotz der Unterstellung, dass er wohl bezahlt sei, ganz ruhig und hält sein nun in zwei Teile zerbrochenes Transparent „OB Wiegand vor Gericht“ etwas abseits des Geschehens weiter tapfer nach oben. Schaum war Rennfahrer, auch auf der Halle-Saale-Schleife. Die sture Haltung von Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand in der Deichbau-Diskussion, die mit Gesetzesverstößen und der Zerstörung der alten Rennstrecke begann, sich mit der Ignoranz gegenüber der Stadtratsmehrheit fortsetzte und inzwischen zu einem Frontenkrieg zwischen Altstädtern und Neustädtern ausgeartet ist, haben ihn auf die Palme gebracht.

Besonders stark vertreten an diesem Abend sind treue Sozialdemokraten oder ehemalige wie Halles OB und seine Referentin Sabine Ernst. Die nächste Landtagswahl in Sachsen-Anhalt ist am 13. März 2016 und das Warmlaufen dafür hat begonnen. Doch zunächst kommt ein Vertreter des Landesbetriebs für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft Sachsen-Anhalt (LHW) zu Wort: Er ist stolz, hier zu stehen, ergreift er Partei für die Pro-Deich-Aktivisten. Es ist einfacher, gegen etwas zu sein. Der Damm hätte 2013 nicht gehalten ohne die gewaltige Leistung der zahlreichen Einsatzkräfte und freiwilligen Helfer. Noch nie hat er eine so emotionale Diskussion über Deichbauvorhaben in Sachsen-Anhalt erlebt. Das Gericht hat die Linienführung (des Deiches entlang der Halle-Saale-Schleife) nicht kritisiert, sondern nur die Notwendigkeit eines Umweltverträglichkeitsgutachtens bestätigt. Das kostet nun Zeit. „Für die Zeit brauchen wir einen Plan B.“ Es ist unklar, wann und wie hoch das nächste Hochwasser kommt. Hinter dem Deich leben 30.000 Menschen. Noch im Juni wird es einen Runden Tisch mit den Streitparteien geben.

Nun kommt Thomas Felke (SPD) zu Wort. Er erinnert an den Juni 2013. Es gab eine große Solidarität damals. Die jetzige Situation ist zu bedauern, weil keine schnelle Lösung in Sicht ist. Bis es losgehen kann, vergeht noch mindestens ein Jahr, denn die geforderte Umweltverträglichkeitsstudie muss für eine Vegetationsperiode angefertigt werden. Sollten dann Umplanungen erforderlich sein, vergeht weitere Zeit. Als Landtagsabgeordneter will sich Felke dafür einsetzen, dass der Deich schnell gebaut wird, denn in Halle-Neustadt sind so viele Menschen betroffen wie sonst nirgends im Land. Ex-OB-Kandidat Kay Senius (SPD) hört seinem Parteigenossen in der ersten Reihe zu. Im Publikum stehen auch die Stadträte Bernhard Bönisch (CDU) und Erwin Bartsch (Die Linke).

Manfred Hinderer, der Sprecher der Initiative „Pro Deich“, ist an der Reihe. Er dankt den Helfern von 2013. „Halles größter Stadtteil ist gerade noch davongekommen.“ 2,5 Millionen Euro hat die Verteidigung des alten Gimritzer Dammes gekostet, mehr als 330.000 Sandsäcke wurden verbaut, sagt die Stadtverwaltung. Was wäre gewesen, wenn die Verteidigung misslungen wäre? Allein bei der GWG, der größten Vermieterin in Halle-Neustadt wären 7500 Wohnungen mit rund 15.000 Mietern betroffen gewesen. Der Mietausfall pro Monat hätte 1,9 Millionen Euro betragen. Die Wiederherstellung beschädigter technischer Anlagen hätte Wochen gedauert. Die Fernwärme wäre mehr als einen Monat lang ausgefallen. Die Feuerwehr- und Rettungsleitstelle in Neustadt wäre betroffen gewesen. Die B 80 wäre länger gesperrt gewesen. Es hätte Arbeitsplätze gekostet. „Unser gemeinsames Ziel ist der schnelle Bau des Deiches.“ Hinderer verweist auf die Folgen der Bauverzögerung in Grimma (Sachsen), wo nach der Flut im Sommer 2002 so lange debattiert wurde, dass es bis zum verheerenden Hochwasser 2013 keine Lösung gab und der Bürgermeister dort schließlich erklärte, dass er nun geneigt wäre, das Mitspracherecht der Bürger einzuschränken. Die Initiative „Pro Deich“ fordert nun – ganz in diesem Sinne – ein Hochwasserschutz-Beschleunigungsgesetz. „Hochwasserschutz muss Vorrang haben.“ Nun erwähnt Hinderer die IG Hochwasserschutz Altstadt. Die bezeichne die Neustadt eine der Bausünden aus der DDR. Aber wer hat denn noch nach 1990 in Flutflächen gebaut? Halle-Neustadt darf nicht ein zweites Mal einer so gefährlichen Situation ausgesetzt werden. Die Deichgegner werden den Deich weiter verhindern, sagt Hinderer und unterstellt der IG so, dass sie gegen den Deichbau ist. Tatsächlich aber hat die IG immer wieder erklärt, für eine andere Bauausführung zu streiten, insbesondere was den Deichverlauf betrifft.

Letzter offizieller Redner ist Oberbürgermeister Bernd Wiegand. Er begrüßt unter anderem die Stadträte und Landtagsabgeordneten im Kreise der Zuhörer und kommt dann zur Sache: Die Diskussion im Jahr 2011 war, wie man einen Damm baut. Pläne dafür lagen seit Jahren in den Schubladen, auch vor den Hochwässern 2011 und 2013. Bei beiden Hochwässern war Wiegand federführend zuständig – 2011 als Ordnungsdezernent und 2013 als OB. Es ist ein Wunder, so Wiegand, dass der Deich 2013 noch hielt. „Ich bin zum Handeln gezwungen worden“, kommt er wieder auf seine Auffassung von der Lage im Sommer 2013 zu sprechen, wonach er wegen der Versäumnisse des Landes zuständig war und den Deichbau einleitete, da die Absprachen zum Deichneubau im Prinzip bereits erfolgt waren. Weil rechtlich nur der physische Ausfall der übergeordneten Behörde und nicht deren Untätigkeit oder Langsamkeit die untergeordnete Verwaltungseinheit zum Handeln berechtigt, lag Wiegand damit jedoch falsch und wurde vom Landesverwaltungsamt gestoppt. Der OB verdeutlicht sein Dilemma: Er ist erst wieder im Katastrophenfall zuständig. Dann nennt er die Randbedingungen des Deichbaus, der den gewählten Verlauf begründet. „45 Meter Breite sind für einen Damm nötig.“ Der Abriss der Eissporthalle (die aus Sicht der Verwaltungsspitze einen Totalschaden hat und nur nocch abgerissen werden kann) wurde untersucht. Mindestens ein Jahr dauert der Abriss und danach muss der Boden unter der Halle beprobt werden. „Egal wie wir bauen, auch gegen eine andere Linie könnte geklagt werden.“ Deswegen will der OB die bestehende Linie weiter untersetzen. Im Notfall würde jetzt ein Notdamm errichtet, erklärt er und verspricht: „Sie können sicher sein, wir werden in jedem Fall ihren Schutz gewährleisten.“ Das Gericht, das den Baustopp verhängte, hat die Linie nicht „attackiert“. „Wir sind nur zum Nachsitzen verurteilt“, sagt Wiegand und ergänzt, in Neustadt sind im Wiederholungsfall 42.000 Menschen betroffen.

Nun kommen Bürger zu Wort. Der erste sagt, dass 45 Meter nicht nötig sind und eine Spundwand gesetzt werden kann wie in anderen Städten auch. Die Eissporthalle muss nicht weg. Baugrundgutachten sind vorhanden. „Machen Sie nicht Dinge zu einem Problem, die keine sind.“ Ein anderer Bürger ist ganz auf Wiegands Deichlinie: „Die Bürokratie stinkt zum Himmel“, schimpft ein anderer Zuhörer und erweckt durch einen vermeintlichen Versprecher den Eindruck, dass es auch zu viel Demokratie in Deutschland gibt. „Nicht nur reden – handeln!“

Zum Schluss ist wieder Hochwasserbeiratsmitglied Weißenborn am Zug. Er ist mit Hochwässern groß geworden, etwa in Roßleben an der Unstrut. Am Hochwasserschutzprogramm der DDR hat er mitgewirkt. Er geht mit den anderen verbliebenen Kundgebungsteilnehmern zu der seit fast zwei Jahren halbseitig gefrästen S-Kurve der Halle-Saale-Schleife, um entlang der geplanten Deichlinie eine Menschenkette zu bilden. Sie soll den Deich symbolisieren. Dann fassen sich alle an zur Laola und Beschwörungsrufen, der Deich möge bald kommen.