Auf ein Wort, Herr Böhmer

von 15. Januar 2016

Neun Jahre lang stand Wolfgang Böhmer im Rampenlicht der Politik. Neun Jahre lang hat erein Bundesland regiert. Neun Jahre lang hat er Reden gehalten, ist durchs Land getourt, hatGrußworte gesprochen, Veranstaltungen eröffnet, Verdienste von Landsleuten gewürdigt und,wenn es sein musste, Trost gespendet. Neun Jahre lang hat Wolfgang Böhmer gewissenhaftseine Pflicht erfüllt und Sachsen-Anhalt ein Gesicht gegeben. Er kennt also sein Land. Aberkennt sein Land auch Wolfgang Böhmer? Er, der als Landesvater vielen sein Ohr geliehen hat,hat in der Regel wenig von sich selbst preisgegeben.

Insofern ist das Buch, das aus Anlass des 80. Geburtstages (27. Januar 2016) von WolfgangBöhmer im Mitteldeutschen Verlag erscheint, etwas Besonderes. In dem Buch spricht derWittenberger Arzt und frühere Ministerpräsident Sachsen-Anhalts ausführlich über sich selbst.

Im Gespräch mit der Journalistin Monika Zimmermann gibt er Auskunft über sein Leben in dreiDeutschlands: Er erinnert sich an seine Kindheit im Nationalsozialismus, beschreibt dieTätigkeit als Arzt im Sozialismus und beleuchtet Hintergründe des überraschenden Wechsels indie Politik der wiedervereinten Republik. Nicht zuletzt erteilt Wolfgang Böhmer eine kleineGeschichtslektion über das neu geschaffene Bundesland Sachsen-Anhalt. Dabei ist er gewohntmutig im Urteil und gewährt überraschend offen Einblicke in den Politikbetrieb, in seine
Gefühlswelt und die Mühsal des Älterwerdens.

So verrät Wolfgang Böhmer, dass er gern bei der Hitlerjugend mitgemacht hätte. Nur weil erzu jung war, „ist der Kelch an mir vorübergegangen“. Er beschreibt, wie er den Übergang vomNationalsozialismus zum Sozialismus als „fließend“ erlebte und seine Eltern, nachdem sie ihrekleine Landwirtschaft notgedrungen in die Genossenschaft einbringen mussten, heimlichgebuttert haben und Klein-Wolfgang Schmiere dabei stehen musste. Dass er ausgerechnetGynäkologe geworden sei, habe praktische Gründe gehabt: Im Krankenhaus in Görlitz wargerade eine Facharztstelle frei, außerdem habe er unbedingt etwas machen wollen, wobei manauch operieren kann. Geradezu kurios mutet das Geständnis von Wolfgang Böhmer an, erhabe sogar als Finanzminister noch sonnabends heimlich operiert, weil die Trennung vom Berufihm schwer fiel. Ganz anders sein Abschied aus der Politik, der fiel leichter: „Ich wußte ja,wann Schluss ist.“

Nicht bekannt war bisher auch, dass der nordrhein-westfälische Ministerpräsident JohannesRau Böhmer geholfen hat, als er wegen seines Sohnes mit der DDR-Staatsmacht heftig inClinch geriet. Seinen Einstieg in die Politik beschreibt Wolfgang Böhmer als „hochgradigirritierend“. Er wollte sein Landtagsmandat sofort zurückgeben, tat dies dann doch nicht, weiler plötzlich Finanzminister war. Dass er gelegentlich als Kompromisskandidat antreten musste,
weil scheinbar nichts für seine Partei zu holen war, habe ihn eher „angestachelt“, so Böhmer.

An Angela Merkel habe er ihre Durchsetzungsstärke in der Partei bewundert, beschreibt sieaber auch als „gelegentlich unduldsam“. An der Politik im Allgemeinen bemängelt er, dass dieFrage, ob eine Sache richtig oder falsch sei, oft davon abhänge, wer etwas sage und nicht „vonFakten, die man begründen kann“. Erstmals spricht Wolfgang Böhmer auch über seine Tochter,die im ersten Lebensjahr an einer damals nicht operablen Krankheit verstarb. Und man erfährt,dass sein eigener Name bereits auf einem Grabstein in Dürrhennersdorf steht – noch ohneDatum. Dies sei eine Vorsorge, so Böhmer gewohnt nüchtern: „Ich weiß, irgendwann wird das
gebraucht“.

Weitere Zitate aus dem Buch: „Auf ein Wort, Herr Böhmer“

Böhmer über das Sterben:

„Ich habe viele Menschen sterben sehen, auf unterschiedliche Weise. Der Umgang mit dem
Tod ist mir nicht fremd. Ich hätte Angst vor einem langen schmerzhaften Vor-mich-hin-
Siechen. Das gebe ich zu. Ein relativ kurzer, schmerzloser Vorgang muss irgendwann ertragen
werden. Es hat aber keinen Zweck, ständig daran zu denken.“

Böhmer über die DDR-Bodenreform:

„In der damaligen Situation war das für viele auch eine Form des Lastenausgleichs.“

Böhmer über die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in der DDR:

„Das war schon eine Situation, in der man unweigerlich über ethische Grundsätze nachdachte.
Denn man muss sich das praktisch vorstellen: Sie sind als Arzt verpflichtet, einen Fötus aus
dem Leib zu holen, egal, ob sie das für richtig halten oder nicht… Das lässt einen doch nicht
unberührt.“

Böhmer über seine erste Reaktion auf den Mauerfall:

„Die in Berlin wissen nicht, was sie tun.“

Böhmer über die sogenannte Gehälteraffäre in Sachsen-Anhalt:

„Die Regierung hat politisch völlig ungeschickt agiert.“

Böhmer über das „Magdeburger Modell“:

„Machtpolitisch war es vielleicht kein Fehler. Aber Höppner hat der PDS dazu verholfen, wieder
salonfähig zu werden.“

Böhmer über die Gebietsreform:

„Ich hätte mir einen Anhalt-Kreis gewünscht. Aber das war partout nicht zu machen.“

Böhmer über seine Verankerung in der CDU:

„Wenigstens haben sie mich gewählt, auch wenn sie nicht an mich geglaubt haben sollten.“

Böhmer über Sachsen-Anhalt:

„Sachsen-Anhalt hätte Stolz verdient.“

Böhmer über Politiker:

„Die Grundsätze, die man immer wieder hört: Erst kommt das Land und dann die Partei,
werden gelegentlich von denen, die sie auf den Lippen führen, nicht beherzigt.“

Böhmer über ungleiche Lebensverhältnisse:

„Ich empfinde die Unterschiede nicht als Defizit.“

Böhmer über Ostdeutsche:

„Die Eigenverantwortung muss erst mühsam wieder erlernt werden.“

Böhmer über Errungenschaften der DDR:

„Erst wurden die Polikliniken abgeschafft, jetzt erleben sie als medizinische
Versorgungszentren eine Art Auferstehung. Sie sind einfach patientenfreundlich.“

Böhmer über den Fall Christian Wulff:

„Das ist für mich ein Lehrbuchbeispiel über Skandalisierungstechniken in den Medien zur
Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Situation.“

Böhmer über den Rechtsstaat:

„Der Rechtsstaat hat Grenzen, wenn die Instrumente des Rechtsstaates eingesetzt werden
müssen, um Diktaturen aufzuarbeiten. Aber eine rechtsstaatliche Aufarbeitung ist immer noch
besser als erneut zur Rache aufzurufen. Das Wesen des Rechtsstaates besteht gerade darin,
dass er sich nicht vom Rechtsgefühl der Betroffenen leiten lässt, sondern vom kodifizierten
Recht.“

Böhmer über Aufarbeitung des SED-Unrechts:

„Die Aufarbeitung haben wir viel zu schnell und viel zu sehr auf den Repressionsapparat, also
auf die Tätigkeit der Staatssicherheit, fokussiert. Dass dahinter eine Gesellschaftsphilosophie
steckte, dass die Stasi Schild und Schwert einer Partei war, die nach einer Ideologie handelte,
ist zu wenig analysiert worden. Da besteht noch viel Nachholebedarf.“

Böhmer über die Zukunft der Stasiunterlagenbehörde:

„Diese Behörde zur Aufarbeitung des Staatssicherheitsheitsdienstes muss nun wirklich nicht
länger existieren als der Staatssicherheitsdienst der DDR selbst.“

Böhmer über die Irrtümer des Marxismus:

„“Die Leute sind ja 1989 nicht auf die Straße gegangen, weil sie mehr Geld haben wollten, sie
wollten mehr Freiheiten haben, mehr mitbestimmen können über das eigene Leben. Das war
das Gegenteil von dem, was der Marxismus lehrt, der die Entwicklung immer nur als Folge von
sozialen Konflikten und Klassenkämpfen sieht.“

Böhmer über den Wert der Familie:

“Ich bekomme regelmäßig Applaus, wenn ich sage, dass es in den meisten Fällen keine
Benachteiligung von Kindern ist, wenn sie für einige Stunden am Tag den eigenen Eltern
ausgesetzt sind. Aber dann höre ich in den Medien genau das Gegenteil, und die Politik trifft
gegenteilige Entscheidungen. Das alles kann nicht richtig sein.“

Böhmer über Extremismus:

„Die Fähigkeit mit alternativen Meinungen umzugehen, war im Osten nicht besonders
entwickelt. Das führte zu einem gewissen Rigorismus bei der Behauptung der eigenen
Vorstellung. Ein ähnlicher Rigorismus ist nun bei den Radikalen, bei den Linksradikalen ebenso
wie bei den Rechtsradikalen, zu beobachten.“

Böhmer über Fremdenfeindlichkeit im Osten:

„Die Angst vor dem Fremden ist oft eine gefühlte Angst.“

Böhmer über Demokratieakzeptanz:

„Da gibt es weltweit das Phänomen, dass die Leute nach mehr Demokratie rufen und mehr
soziale Sicherheit meinen. Viele von denen, die 1989 für mehr Demokratie auf die Straße
gingen, waren hinterher enttäuscht. Sie wollten Presse-, Meinungs- oder Reisefreiheit. Und
verloren erst mal ihre Arbeit. Wobei die Zusammenhänge nicht immer sehr logisch sind.“

Böhmer über Freiheit:

„Wenn Freiheit allzu häufig missbraucht wird, ist das ein Wert, den niemand mehr teilt. Man
muss schon die Regeln des Zusammenlebens durchsetzen und kontrollieren, damit der
Freiraum, den wir uns gegenseitig zubilligen, nicht verschwindet.“

Böhmer über das Phänomen Pegida:

„Dort finden sich die zusammen, die sich mit ihren Ängsten und Sorgen nicht von der Politik
berücksichtigt finden…Man muss mit den Leuten über ihre Ängste reden. Da hilft gar
nichts…Man muss mit denen diskutieren, so schwer das auch im Einzelfall sein mag. Es war
falsch, dass die demokratischen Parteien solche Gespräche unisono abgelehnt haben, ohne die
Argumente überhaupt näher zu kennen.“

Böhmer über die Angst vor Flüchtlingen:

„Diese Ängste werden artikuliert in einer zum Teil schlimmen Art und Weise. Wir haben keine
Debattenkultur mehr. Aber auch wenn man die Sorgen nicht teilt, die da formuliert werden,
und schon gar nicht die Art, wie sie vorgebracht werden, muss man diese Sorgen von
Menschen doch ernst nehmen und in fairer Weise auf sie eingehen. Wenn man das nicht tut
und sie nur beschimpft, dann werden die immer mehr abdriften.“

Böhmer über direkte Demokratie:

„Die repräsentative Demokratie hat sich nicht überlebt. Sie muss nur Mechanismen einführen,
die politische Minderheiten mit einbindet. Sonst fühlen die sich isoliert und schließen sich
außerhalb der Parteien zusammen. Das ist jetzt bei Pegida und ähnlichen Formationen zu
beobachten… Über mehr direkte Demokratie sollten wir sehr ernst nachdenken. Seit es das
Grundgesetz gibt, sind Entwicklungen eingetreten, die damals, 1949, nicht absehbar gewesen
waren.“

Böhmer über Landtage:
„Es ist doch jetzt schon so, dass die Landtage oft über Dinge diskutieren, über die sie gar nicht
zu entscheiden haben, nur um die Tagesordnung zu füllen. Dieser Wirrwarr der Kompetenzen
macht Demokratie für die Bevölkerung immer schwerer verständlich. Dem könnte man
gegensteuern mit gelegentlichen Volksentscheiden.“

Böhmer über Föderalismus:
„Das ist mühsam. Mühsal führt aber auch dazu, dass ein Thema in all seinen Facetten bedacht
wird. Das ist nicht schädlich. Föderalismus ist unter dem Strich leistungsfördernd…und auf
jeden Fall besser als das utilitaristische Durchregieren einer Zentralmacht.“

Böhmer über den Sozialstaat:
„Ich habe gelernt, dass jede soziale Leistung…nach kurzer Zeit im Gefühl der Bürger als
Rechtsanspruch verstanden wird. Wenn sie also irgendetwas rückgängig machen wollen, weil
die Situation sich geändert hat, bekommen sie die allergrößten Schwierigkeiten, weil jeder der
Meinung ist, das steht ihm jetzt zu, und zwar für immer und ewig.“

Böhmer über Russland:
„Ich bin überzeugt, die Russen brauchen noch eine ganze Zeit eine straffere Führung, denn sie
sind nicht in demokratischen Verhältnissen gross geworden. Die hat es seit der Zarenzeit nie
gegeben. Die Russen haben nach wie vor eine Väterchen-Mentalität.“

Böhmer über das Leben als Ruheständler:
„Da sind sie froh, wenn jemand anruft und sie mal ein bisschen über dies oder jenes reden
können.“

Böhmer über das eigene Vermächtnis:
„Mit mir hat keine Epoche begonnen und mit mir wird keine Epoche zu Ende gehen. Das Leben
wird einfach weitergehen.“
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Titel: Auf ein Wort, Herr Böhmer
Arzt und Politiker – Wolfgang Böhmer im Gespräch mit Monika
Zimmermann
160 S., Br., 130 x 200 mm, s/w-Abb.
ISBN 978–3–95462–640–3
Preis: 9,95 €

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