Ukrainischer Botschafter zwischen Willkommen und Protest

von 16. Juli 2015

Eingeladen hatte der SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby und der SPD-Stadtverband Halle (Saale). Der Botschafter stellte die Ukraine als wirtschaftlich stark und westorientiert dar und attackierte Russland mehrfach als Aggressor. Einige Zuhörer protestierten wiederholt gegen Aussagen aus dem Podium, in neben Melnyk die Politikwissenschaftler Everhard Holtmann (Moderation) und Johannes Varwick sowie SPD-Bundestagsfraktions-Vize Rolf Mützenich Platz genommen hatten.

Von Hallelife zum Anlass der Runde befragt, erklärte Diaby: Viele Unternehmen klagen über die Folgen der Sanktionen gegen Russland. Das gilt auch für den Handel mit der Ukraine. Der Vorschlag für den Abend kam aus der SPD-Bundestagsfraktion. Die Veranstaltung im Freylinghausen-Saal der Franckeschen Stiftungen war gut besucht. Das Publikum war bunt gemischt. Zu sehen waren junge und ältere Menschen, Uniformierte von Heer, Luftwaffe und Marine, aus Politik und Verwaltung. Mit dabei war auch Halles Planungsdezernent Uwe Stäglin, privat, wie er gegenüber Hallelife sagte. Er ist pro Ukraine eingestellt und sieht Russland als Angreifer. Als stellvertretender Bezirksbürgermeister von Berlin-Steglitz-Zehlendorf in den Jahren 2001 bis 2011 hatte er Städtepartner im Rayon Ordschonikidse der Stadt Charkow (Charkiw). 2005 war Stäglin beim Eurovision Song Contest in Kiew. Zum Gesangswettbewerb reist er jedes Jahr. So war er 2009 auch in Moskau und dieses Jahr in Wien. Nächstes Jahr geht es – so der Plan – nach Stockholm.

„Die Lage ist sehr, sehr ernst“, leitete Diaby den Abend ein und übergab das Wort dem Botschafter der Ukraine. Melnyk schickte seiner Rede die besten Wünsche voraus für die Bewerbung der Franckeschen Stiftungen um den UNESCO-Welterbetitel. Seine Heimatstadt Lemberg hat den Titel bereits. „Die Zukunft der Ukraine liegt eindeutig in Europa.“ Als zukunftsfähig und modern wird die Ukraine in Deutschland nur selten wahrgenommen. „Ich glaube an die Ukraine.“ Das Land hat gut ausgebildete, aber leider zu günstige Arbeitskräfte. Über 10.000 Ukrainer sind an deutschen Hochschulen, so Melnyk. Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist Weltspitze. Der Botschafter nannte den bekannten Hersteller Antonow und den neuen Militärtransporter AN-178, der eine Alternative zum Airbus A400M ist. Kein deutscher Satellit ist ohne Technik aus der Ukraine denkbar. Das gilt auch für die deutsche Autoindustrie, die über 20.000 Arbeitsplätze geschaffen hat, überwiegend in der Westukraine. Deutschland importiert zweimal so viel Elektronik aus der Ukraine als aus Russland. Bei Sonnenblumenöl und Honig ist die Ukraine an erster Stelle in der Welt, bei Getreide an zweiter. Ziel der Ukraine, ist der wirtschaftliche und politische Anschluss an Europa, so Melnyk. An der Stelle sprach er von der „Annexion der Krim“ durch Russland und den „von Moskau angezettelten Krieg im Osten der Ukraine“. „Aber wir lassen uns nicht entmutigen.“ Schmerzhafte, aber notwendige Maßnahmen wurden beschlossen. Die Korruptionsbekämpfung spielt eine zentrale Rolle. In der Ukraine ist der größte Flüchtlingsstrom seit dem Zweiten Weltkrieg. „Die Ukraine ist ein Land mit einem großen Potenzial.“ Während der Rede hielt der Deutsch-Ukrainer Attila Bistriker ein Transparent auf Deutsch und Ukrainisch nach oben mit der Forderung „Freilassung des Journalisten Kotsaba“.

Der Ukraine muss man grundsätzlich mit Respekt begegnen, erklärte Mützenich. Die Ukraine ist nach einer schwierigen Geschichte auf den Weg in die internationale Gemeinschaft und die EU. Die Beschlüsse der Ukraine sind zu begrüßen, müssen aber auch umgesetzt werden. „Wir werden aufmerksam beobachten, wie die Ukraine mit dem rechten Sektor umgeht.“ Das Abkommen von Minsk ist von allen Seiten nicht in allen Facetten umgesetzt worden. Man rechnet mit 20.000 Toten bisher.

„Die Ukraine ist ein Land im Krieg“, begann Varwick seinen ersten Beitrag zum Thema. Man muss zwingend auf das russisch-ukrainische Verhältnis eingehen. Russland hat einen Phantomschmerz, sieht eine geopolitische Katastrophe. Blut und Schwert regieren. Russland will lieber Instabilität als einen Machtfaktor. Die EU muss einen Interessenausgleich bewirken – auf der richtigen Ebene. Die Politik in Moskau richtet sich auch gegen russische Interessen, so Varwick. Russische Schwäche wird in den nächsten zehn bis 15 Jahren eher ein Problem als russische Stärke. „Härte und Dialogbereitschaft“ sind gefragt. Der Ukraine muss beim Aufbau der Zivilgesellschaft geholfen werden.

Wo ist die Problemlösungskompetenz der Ukraine liegt nach Minsk I und Minsk II (zur Erklärung: das Abkommen Minsk II vom 12. Februar 2015 sollte auf Initiative von Deutschland und Frankreich zum Ende des Krieges in der Ostukraine führen wie schon Minsk I vom 5. September 2014), wollte Holtmann wissen. Melnyk antwortete: Die Ukraine ist bereit, den schmerzhaften Weg von Minsk II zu gehen (Minsk II fordert unter anderem: Autonomie bestimmter Regionen der Gebiete Lugansk und Donezk und Kommunalwahlen in den „Separatisten“-Gebieten und Dezentralisierung der Ukraine per Verfassungsreform). Doch der erste Schritt, schwere Waffen aus der Ukraine abzuziehen, ist noch immer nicht erfüllt. Die meisten Opfer hat die Zivilbevölkerung. Das Referendum in der Krim fand mit schwer bewaffneten Soldaten statt. Beobachter waren nicht zugelassen. Und so weiter. Es sind keine Fortschritte zu beobachten, sagte Melnyk. An der Stelle kam es zu den ersten Zwischenrufen aus dem Publikum. „Lügner! Kriegstreiber!“, riefen Aktivisten der “Friedensbewegung Halle”. „Mund halten!“, herrschte ein anderer Zuhörer zurück. „Das ist ein Forum einer einzigen Meinung“, legten die Kritiker nach. Diaby versuchte mit dem ersten „Störer“ zu reden. Schließlich meldete sich der Moderator Holtmann zu Wort und erklärte, dass man sich doch eine Meinung erst einmal anhören kann. An das Podium gerichtet wiederholte er die bereits gestellte und noch immer unbeantwortete Frage nach dem „Rechten Sektor“. Die blutigen Geschehnisse auf dem Maidan sind unbefriedigend untersucht, begann Melnyk seine Antwort. „Es gibt eine Reihe von Schwierigkeiten.“ Holtmann legte nach: Wir wollen uns sicher nicht auf die Position zurückziehen, dass Rechts überall in Europa wächst. Melnyk erwähnte nun, dass die Rechten mit vielen Freiwilligen in der Ostukraine kämpfen (was andere nicht getan hätten). Die bewaffneten Rechten sind aber auch eine Gefahr. Bei der letzten Wahl haben die Rechten keine zwei Prozent der Stimmen bekommen. „Man soll die Gefahr nicht übertreiben.“

Holtmann fragte nun nach Sinn und Wirkung der Sanktionen gegen Russland. „Was kann man tun, wenn andere Staaten Regeln verletzten?“, begann Mützenich seine Antwort mit einer Frage. Er schob die „feste Überzeugung“ nach, dass Waffen keine Lösung sind. Diplomatie und Geduld brachte er als Gegenvorschlag, indem er auf das gerade mit dem Iran geschlossene Abkommen verwies (Verzicht auf Atombomben gegen Aufhebung der Wirtschaftssanktionen). 13 Jahre hat es bis dahin gedauert. 27 Länder sind an den Sanktionen gegen Russland beteiligt. Es ist der Klugheit der Wähler in der Ukraine zu verdanken, dass nicht so viele Rechte in der Rada (ukrainisches Parlament) sitzen. Das Volk denkt anders als die Oligarchen. Die ukrainische Regierung muss regionale Aspekte anerkennen, um zum Frieden zu kommen. Es braucht ein Land, das zusammensteht.

Varwick fand den Verweis auf den rechten Sektor „unfair“. „Die Wahl ist eine klare Entscheidung.“ In der Ukraine geht es in Richtung Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Demokratie. Der rechte Sektor bestimmt nicht die Politik, behauptete der Politologe. Durch Sanktionen soll der Druck gegen die Annexion der Krim und das Eindringen in die Ukraine erhöht werden. Die militärische Drohkulisse hat Schlimmeres verhindert. „Waffen lösen Probleme in der Ukraine.“ Dem widersprach Mützenich: Es besteht kein Mangel an Waffen, sondern an Vertrauen und Diplomatie. Die NATO sollte nicht nur militärisch, sondern auch politisch agieren. „Die Sozialdemokraten verlangen diplomatische Empathie.“

Die Oligarchen verhindern stabile, verlässliche Strukturen, führte Holtmann das Thema weiter. Melnyk ging erst später darauf ein. Zunächst erklärte er: Die Frage nach Waffen sollte nicht vom Tisch sein. „Man sollte Argumente in der Hinterhand haben.“ Die Ukraine versucht, sich selbst zu verteidigen und muss Krieg abwehren gegen einen äußeren und einen inneren Feind. „Die Strukturen waren oft nur eine Fassade, 20 Jahre lang.“ Man soll nicht provozieren, braucht aber alle Mittel zur Verteidigung. An der Ostgrenze gibt es nun wieder neue russische Truppen. Juli und August sind eine sehr günstige Zeit für eine Offensive. „Die Oligarchie ist wie ein Geschwür im Körper der Gesellschaft.“ Die Oligarchen sind eine Handvoll Menschen, die unglaublich reich geworden sind. Sie bluten das Land aus. Die Oligarchen sind in der Regel Zwischenhändler im Energiesektor. Die Oligarchen sind ohne Wettbewerb an Aufträge mit Russland gekommen. In diesem Jahr kauft die Ukraine mehr Gas von der EU als von Russland. Die wichtigsten Medien sind im Moment in der Hand von Oligarchen. „Wir sind am Anfang eines Prozesses.“ Doch die äußere Gefahr überragt jetzt alles. Holtmann fragte ergänzend nach der regionalen Selbstverwaltung. Es geht schon länger um Abspaltung, so Melnyk. Die Krim hatte die Autonomie. Die russische Sprache war nie ein Thema. Man bekommt auch heute noch überall in der Ukraine russische Zeitungen. Langfristige ist die Förderalisierung ein Thema.

Nach anderthalb Stunden war das Publikum an der Reihe. Bistriker, Geschichtslehrer aus der Westukraine, meldete sich zuerst zu Wort. Er sprach von einer nicht-demokratischen Bewegung in der Ukraine. Menschen mit anderen Meinungen werden unterdrückt, sogar erschossen (so am 16. April 2015 der ukrainische Journalist Oles Busina). 650 russische Schulen wurden gesperrt. Russisch muss auch unterrichtet werden. Man muss die Geschichte respektieren. „Sie selber erzeugen die Spaltung“, so Bistriker. Ein andere Zuhörer erklärte, dass es aus dem Podium keine wissenschaftliche Analyse der Lage in der Ukraine gab, sondern eine einseitige, politische Darstellung. Verbotene Waffen werden eingesetzt. Eine dritte Wortmeldung war auch Kritik an der Führung der Ukraine. Die Ukrainer haben eine Regierung, die nicht gewählt ist. Die Regierung schießt auf die eigene Bevölkerung. „Ihre Regierung führt gegen das eigene Volk Krieg. Nichts von alledem, was sie sagen, tun sie.“ Schließlich vertrat ein weiterer Ukrainer die Gegenposition zu seinen Vorrednern: Das ist Propaganda. Russland ist der Aggressor. Warum soll man mit Russland sprechen, wenn die angreifen?

Mützenich vertrat die Auffassung, dass die Ukraine nicht gespalten ist und die Ukrainer die Spaltung nicht wollen. Er erwähnte die Eurasische Wirtschaftsassoziation unter Russland. Die Ukraine will in die EU. Die Krim war russisch und auch türkisch. „Wenn dieses Argument gilt, dann ist das der Spaltpilz in Europa.“ Jetzt trat ein anderer Aktivist der “Friedensbewegung Halle” auf den Plan. Er stieg auf seinen Stuhl und rief: „Ihr seid alle Kriegstreiber. Genozid an 60.000 Menschen ist Krieg.“ Mit weiteren „Kriegstreiber“-Rufen verließ er den Freylingshausen-Saal. Mützenich setzte fort mit der Bemerkung, dass eine Sicherheitszone von Vancouver bis nach Wladiwostok bereits ein Thema war (Was er nicht erwähnte: Russlands Präsident Wladimir Putin bot 2001 im Deutschen Bundestag genau eine solche Friedensordnung an).

Varwick verteidigte sich: Es gibt in der Politik keine wissenschaftliche Sicht, sondern nur gute und schlechte Argumente. Man muss genau hinsehen, wer in der Ost-Ukraine agiert. Es gab eine mangelnde Sensibilität der EU in der Reaktion auf den Maidan. Für Russland machte der Politologe eine Radikalisierung sowie den Abbau von Demokratie und Rechtsstaat aus. „Lüge!“, war an der Stelle ein erneuter Zwischenruf zu vernehmen. Melnyk ergänzte: „Ohne Russland wäre dieser Krieg nicht möglich gewesen.“ Der Einfluss des rechten Sektors wird heruntergespielt, wurde er von einem Aktivisten korrigiert. Melnyk blieb unbeeindruckt: Es stimmt nicht, dass niemand mit Russland gesprochen hat. Die Ukraine ist per Gesetz ein blockfreier Staat und wollte blockfrei bleiben. Russland, so Melnyk, will von eigenen inneren Problemen ablenken mit den gemeinsamen äußeren Feinden Ukraine und EU. Russland ist ein Nachbar der Ukraine. „Man kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen.“ Die Ukraine will Normalität.

Nach der Veranstaltung diskutierten einige Teilnehmer in kleinen Gruppen weiter. Nach Hallelife-Informationen kamen aus der Pro-Ukraine-Fraktion Klagen darüber, wie weit sich die „russische Propaganda“ schon verbreitet hat. In anderen Runden herrschte Aufregung über „Lügen“ und „verfassungswidrige Aussagen“ zum Einsatz von Waffen.

einige Hintergrundinformationen

Melnyk ist seit 1999 im diplomatischen Dienst der Ukraine. Von 2005 bis 2007 war er Berater des Präsidenten der Ukraine Viktor Juschtschenko. Zeitweise war er Vizeminister von Staatschef Arsenij Jatsenjuk.

Rolf Mützenich ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und ist dort zuständig für Außenpolitik, Verteidigung und Menschenrechte. Von November 2005 bis November 2009 war er Vorsitzender der Deutsch-Iranischen Parlamentariergruppe.

Johannes Varwick hat seit 2013 an der Universität in Halle den Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und europäische Politik inne. Drei Jahre war er war wissenschaftlicher Assistent für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Im August 2014 erklärte er einem Interview mit dem Nachrichtensender n-tv: „Dass die NATO die ukrainische Armee jetzt aber ausbildet und ausrüstet, um in diesem Konflikt mit Russland besser aufgestellt zu sein, halte ich für unwahrscheinlich.“

Everhard Holtmann leitete viele Jahre das Institut für Politikwissenschaft in Halle und ist seit 2012 Leiter des Zentrums für Sozialforschung.

Ruslan Kotsaba ist einer der bedeutendsten Journalisten der Ukraine. Er befasste sich kritisch mit den Vorgängen auf dem Maidan und in der Ost-Ukraine. Kotsaba kommt aus der West-Ukraine und gilt bei den neuen politischen Machthabern als Landesverräter. Amnesty International setzt sich für die Freilassung des Journalisten ein.

Oles Busina war ein ukrainischer Journalist, der ebenso populär wie umstritten war. Er stand als angeblicher Separatist auf einer Tötungsliste, die durch eine Initiative aus dem ukrainischen Innenministerium und mit Unterstützung der NATO zustande kam. Die Liste kursierte sogar im Internet. Auch Businas Tötung wurde dort dokumentiert.

Welterbe-Stadt Lemberg (Lwow, Lwiw)

http://www.weltkulturerbe.com/weltkulturerbe/europa/lemberg.html

die Abkommen Minsk I und Minsk II

https://de.wikipedia.org/wiki/Minsk_II

aktueller Bericht des Spiegel über den rechten Sektor in der Ukraine

http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-droht-neuer-konflikt-diesmal-an-der-westgrenze-a-1043616.html

Weltsicht des

http://www.globalresearch.ca/ukraine-premiers-pro-nazi-version-of-world-war-ii-ussr-invaded-ukraine-germany/5425571

Putins Rede im Deutschen Bundestag von 2001

https://www.youtube.com/watch?v=9jyLQmyg9hs

Erläuterung zum Text: In Gänsefüßchen steht nur die wörtliche Rede. Wer die jeweiligen Aussagen/Behauptungen getroffen hat, ergibt sich aus dem Kontext. Im Text werden die verschiedenen „Wahrheiten“ absolut gemäß der Position der Gesprächspartner gegenübergestellt.