Spaltung in “Maidanuti” und “Lugandon”

von 16. Oktober 2015

Doch der blutige Konflikt, der mit dem Streit um die Krim begann, ist nicht ausgestanden. Aus der Ukraine sind Millionen Menschen geflohen, allerdings mehrheitlich ins benachbarte Russland und nicht in die Mitte Europas. Das Ringen um die Zukunft der Ostukraine und der Ukraine insgesamt ist noch nicht ausgefochten. Hallelife traf einen Insider, der im September 2015 vor Ort war. Attila, im Westen der Ukraine aufgewachsen, lebt in Deutschland und berichtet, was er in seiner alten Heimat gesehen hat und in zahlreichen Gesprächen mit Menschen in Lwow, Kiew oder Charkow gehört hat.

Auf der Fahrt durch die Ukraine fiel ihm auf: Die Wirtschaft ist überall eine Katastrophe. Die Stimmung der Menschen hat sich binnen eines Jahres gedreht. 2014 waren noch freundliche Gesichter zu sehen, Menschen, die auch mal lachen; 2015 fast keins. 2014 sah man Patriotismus, überall. An Supermärkten zum Beispiel. “Wir gewinnen gegen Russland!” Vorbei. Leute in Lemberg (West-Ukraine) glauben, dass die Verantwortlichen für die Auseinandersetzungen in der Ukraine in der Ostukraine beziehungsweise in Charkow (Osten) sitzen. Ob in den Städten Lwow und Ternopol oder den Regionen Transkarpatien und Iwano-Frankowsk – überall reden die Leute wütend, aber kaum jemand will kämpfen. In Mukatschewo, der zweitgrößten Stadt Transkarpatiens, wollte der “Rechte Sektor” (Selbstbezeichnung) mit Waffengewalt die “Ordnung sichern” und beschoss sogar die Polizei mit Granatwerfern. Trotzdem ist die Unterstützung dieser radikalen Nationalisten groß in der Bevölkerung der Region und selbst seitens der Pollizei.

Aus den Kriegsgebieten, im Osten mit den Separatisten und im Westen mit dem “Rechten Sektor”, sind die Menschen nach Russland und Ungarn geflüchtet. Schuld an allem, so sagen viele, ist Wladimir Putin, Russlands Präsident. Seit Monaten lesen und hören sie in den staatsnahen Medien genau das. Nach der offiziellen Propaganda richtet sich der Kampf der ukrainischen Regierung und ihrer Truppen an der Seite faschistischer Verbände gegen die russischen Eliten. Tatsächlich werden jedoch auch Straßen, die in Verbindung mit Russland stehen, umbenannt, so die Puschkinstraße in Lemberg (Lwow) und die Gorkistraße in Kiew. Damit sind zwei namhafte russische Schriftsteller liquidiert. Allgemein herrscht ein Klima politischer Säuberungen. Journalisten wurden getötet (Oles Busyna) oder verhaftet (Artem Busila, Ruslan Kotsaba). Ins Fadenkreuz gerieten auch Journalisten aus Spanien und aus Großbritannien. Schwarze Listen mit den Namen russischer und ukrainischer Schauspieler kursierten. Die Verfilmung von “Die weiße Garde”, einem Roman des namhaften russischen Schriftstellers Michail Bulgakow, wurde verboten. Auf die Sänger Ani Lorak (Teilnehmerin am Eurovision Song Contest 2008 in Belgrad) und Irina Bilik wurde Druck ausgeübt.

Schon in der Mitte der Ukraine sind viele Menschen unzufrieden mit der Regierung in Kiew. In Charkow sind 70 Prozent der Leute gegen die Regierung, so der Eindruck von Attila bei seinen aktuellen Vor-Ort-Studien. Wenn man etwas Negatives über die in Kiew sagt, ist Beifall sicher. Die Meinung herrscht vor, dass, seit die „Maidanuti“, zu deutsch die Maidan-Idioten, an der Macht sind, alles schlechter geworden ist. In Lemberg werden umgekehrt die Menschen im Osten beleidigt, indem man sie als „Lugandon“ bezeichnet, was einer schmutzigen, verbalen Sexualisierung der Seperatisten-Hochburg Lugansk gleichkommt.

Viele Menschen in Charkow und Ost-Ukraine lebten einst gut vom Handel mit Russen. Die bleiben nun aus. Die Renten sind deutlich gesunken, wie die Einkommen im Öffentlichen Dienst. Millionen Rentner bekommen 50 bis 80 Euro im Monat. Doch die Preise sind gestiegen. Vor allem viele Lebensmittel sind gemessen an den Einkommen der Leute extrem teuer. Der Preis für Gas hat sich versiebenfacht, der für Strom verdreifacht.

Die Mehrheit in Mariupol (Region Donezk) ist gegen die Regierung. Derweil werden die Leute in Charkow langsam mutiger gegen die Rechten, die an vielen Orten im Land Angst und Schrecken verbreiteten. Aus der Rada, dem ukrainischen Parlament in Kiew, ist Igor Mositschuk, eine Schlüsselfigur der ukrainischen Rechtsradikalen, zwischenzeitlich entfernt worden. Wie weit die Regierung in Kiew Hand in Hand mit den Nationalisten geht, ist ein ständiges Streitthema. In der Ukraine, so Attila, sind “Linke” ausgerottet durch die Aktivitäten des Rechten Sektors und durch die gerichtliche Verfolgung als Vaterlandsverräter. Tonangebende Opposition sind der Rechte Sektor, die Svoboda-Partei und die Radikale Partei. Der Oppositionsblock der ehemaligen Janukowitsch-Partei ist hingegen eingeschüchtert.

Welche Rolle die USA und ihre Verbündeten in der Ukraine spielen, sagt Attila auch. Sie unterstützen des Regime. So stellte der amerikanische Botschafter den Polizeirevier-Chef in Odessa vor. Gouverneur der Oblast Odessa wurde im Mai 2015 der ehemalige Präsident Georgiens, Micheil Saakaschwili. 2013 war er in die USA geflohen. Finanzministerin ist Natalija Enn Jaresko, eine Investment-Bankerin aus den USA und Tochter ukrainischer Auswanderer. Das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung und Handel ist der Hand des Litauers Aivaras Abromavi?ius (seit 2014 ukrainische Staatsbürgerschaft).

Wenn die Rede darauf kommt, wie der Krieg angefangen hat, fällt immer wieder Name eines Ortes: Slawjansk. Attila hat dazu einen alten Offizier gesprochen. Er negierte die weit verbreitete Story, dass Igor Girkin im April 2014 mit russischen Waffen nach Slawjansk in die Ukraine gekommen ist. Girkin, ein ehemaliger Geheimdienstmann aus Russland, und seine kleine Armee von 30 bis 50 Mann, offenbar ebenfalls Russen, haben die Waffen gemäß der Aussage des Offiziers jedoch erst in der Ukraine beschafft. Zunächst hätten die Rebellen Maschinengewehre des Polizeireviers sowie Fahrzeuge und Ausrüstungen der ukrainischer Soldaten übernommen. Diese hatten ihr Ausrüstung kampflos zurückgelassen, nachdem aufständisches, aber friedliches Volk sie eingekreist hatte. Girkin habe auf die Hilfe Russlands gehofft und später darüber geklagt, dass er keine bekam. Weitere Waffen beschafften sich seine Brigade aus Kämpfen mit der ukrainischen Armee unter anderem in Kramatorsk (Region Donezk).

Die Meinung über Deutschland hat sich inzwischen auch geändert. Nicht eben wenige Menschen halten Bundeskanzlerin Angela Merkel für eine Verräterin, da sie die Erwartung nicht erfüllte, wonach die Ukraine Geld von Deutschland bekommt und in die Europäische Union aufgenommen wird.

Bericht in der TAZ über Rechten Sektor in der Stadt Mukatschewo

http://www.taz.de/!5212739/

Todesserie ukrainischer Oppositioneller

https://de.wikipedia.org/wiki/Todesserie_von_ukrainischen_Oppositionellen

Herkunft eines Bekennerschreibens zu den Morden an Oppositionellen

https://de.wikipedia.org/wiki/Ukrainische_Aufst%C3%A4ndische_Armee

Gewalt gegen Journalisten in der Ukraine

http://imi.org.ua/en/news/48339-freedom-of-speech-violations-in-ukraine-infographics.html

Passierscheindilemma für Menschen aus Seperatistengebieten in der Ostukraine

http://www.taz.de/!5200413/

mehr über Igor Girkin

https://de.wikipedia.org/wiki/Igor_Wsewolodowitsch_Girkin

desolate Lage der ukrainischen Regierung

http://www.heise.de/tp/artikel/45/45353/1.html