Was verloren ist, wurde verspielt

von 16. März 2016

Eher müsste man die 39 Prozent Nichtwähler mehrheitlich auch noch den Blauroten zuschlagen, denn die Nichtwähler sind genauso fertig mit den etablierten Parteien, nur haben sie schon komplett resigniert und sehen in Wahlen kein Mittel mehr, die gewünschten, grundsätzlichen Änderungen durchzusetzen. Die Zustimmungstheorie ist ebenso wie das Gerede von den Demokraten hier und (Rechts) Populisten da arrogant gegenüber den Regierungskritikern und vereinnahmt die Wähler von CDU und SPD als graue Masse, die im Einheitsschritt maschiert. Die Ignoranz, die daraus spricht, zeugt von Realitätsverlust und ist brandgefährlich.

Das Abschneiden der AfD ist, entgegen aller Käsemienen nach der Wahl (unter anderem bei Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand), ganz und gar nicht überraschend. Es zeichnete sich lange ab und hat keineswegs nur mit der unkontrollierten Masseneinanderung zu tun, auch wenn das immer wieder behauptet wird und die AfD im Wahlkampf auf genau diese Initialzündung setzte. In Sachsen-Anhalt geht es nicht um drei Jahre AfD, sondern um 25 Jahre Talfahrt, Enttäuschungen, Demütigungen und Hoffnungslosigkeit unter CDU, FDP, SPD, Linken und Grünen, die alle schon am Zuge waren in diesem gottverlassenen Bundesland. Das Wahlvolk hat inzwischen alle Karten gespielt und durchprobiert. Ergebnis: Sachsen-Anhalt war und blieb abgehängt. Frust hat sich angestaut und Ärger darüber, nicht gehört zu werden, abgekoppelt zu sein von Wohlstand, Sicherheit und Anerkennung in der “besseren” Gesellschaft, die auf das Pöbelpack gerne mit dem Finger zeigt.

Die Bruchlinie zwischen den zwei Klassen der Gesellschaft heute ist ziemlich genau an den Farben ihrer Parteienpräferenzen abzulesen – in Halle an der Saale, in Sachsen-Anhalt und bundesweit. AfD-Hoheitsgebiete sind Neustadt und Silberhöhe, Schwarz-Grün sind Paulusviertel und Kröllwitz. Blau ist der Süden Sachsen-Anhalt vom Burgenland über den Saalekreis bis nach Anhalt-Bitterfeld und ins Mansfelder Land – kurz gesagt: das alte Chemiedreieck und die Bergbauregion. Sie sind die Verlierer. Dabei muss die Tendenz im Saalekreis auch deshalb zu denken geben, weil dort sichtbar wird, dass sich die Unzufriedenheit inzwischen bis weit in die Behörden und Verwaltungen vorgearbeitet hat. Das Grün in Baden-Württemberg ist die Farbe der Gewinner, der Wohlständigen. Das Land im Südwesten ist reich und satt und kann sich – zumindest aus Wählersicht und Kretschmann hin oder her – den Luxusthemen zuwenden und dankbar annehmen, seinen guten Stand den Etablierten zu verdanken.

Sachsen-Anhalt hingegen ist die Bruchstelle, an der zu Tage tritt, was in diesem Land und in diesem System falsch läuft. Wer wissen will, warum André Poggenburg im Burgenland punktete, braucht nur einmal nach Zeitz zu fahren und sich dort die verkohlten, blühenden Trümmerlandschaften anzusehen. Die Radikalisierung ist – unabhängig von Momentaufnahmen – systemimmanent und das Risiko eines Abdriftens in den Faschismus logische Folge des erbitterten Kampfes um Geld und Macht. Diese Krise ist keine lokale, keine regionale, sondern eine weltweite. Von Washington bis Berlin ist sie zu sehen. Sie begann 2008 und hat seitdem nie aufgehört. Die für den kleinen Mann verderbliche Niedrigzinspolitik der EZB-Mafia unter dem Goldman-Sachs-Jünger Mario Draghi ist nur ein Beleg dafür. Zu den objektiven Gründen für die Wut kommen soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter und Whatsapp als Brandbeschleuniger. Dort verbreiten und steigern sich Emotionen und Aggressionen ungebremst, dort wird sichtbar, was wäre wenn. Doch mit Verboten, Maulkörben und Prangerseiten in der “Lügenpresse” ist dieses Feuer nicht zu löschen. Hier hilft nur die konkrete Verbesserung der sozialen Lage und die Rückkehr zu sachlicher Berichterstattung statt Propaganda. Mischpoke und Pack heizen die Stimmung weiter an. Nicht die Ausländer sind das Problem, sondern die politische Klasse und ihre Hintermänner, die alle anderen gegeneinander ausspielen, aufhetzen und aussaugen.

Wer jetzt entsetzt oder überrascht ist, hat bisher geschlafen. Seit fast zwei Jahren sind die Themen auf der Straße, mit denen die AfD nun gepunktet hat. In diesen zwei Jahren ist den etablierten Parteien dazu nicht mehr eingefallen, als die Entwicklung kleinzureden, die Menschen als dummes Pack, Nazis und Verschwörungstheoretiker zu beschimpfen und ansonsten alles so weiter zu machen wie bisher.

Das ist nun die Rechnung, der Denkzettel, die Blaupause aus Verletzung, Ohnmacht und Wut. Die Wahl war eine Protestwahl. Das bestätigen auch die Analysen zu den Wählerwanderungen; eine Protestwahl wie sie schon früher mit DVU und Schill-Partei stattfand. Die etablierten Parteien sind allerdings gut beraten, genau diese Wahlen mit der vom 13. März 2016 nicht zu vergleichen und die AfD nicht als vorübergehendes Phänomen auf die leichte Schulter zu nehmen. Diese Partei hat ihr Potenzial noch nicht ausgeschöpft, doch der Kampf um die verlorenen Wähler ist noch nicht verloren. Wenn die Etablierten so wie bisher weitermachen, auch rhetorisch, werden sie bei der Bundestagswahl 2017 ihr zweites blaues Wunder erleben. Ein Blick in die Programmpunkte der AfD, die sich keineswegs nur mit den Flüchtlingen beschäftigen, zeigt, wo der Schuh drückt bei vielen Menschen in diesem Land und dieser Blick zeigt auch, dass es relativ leicht wäre, diese Punkte von der AfD zu übernehmen. Dazu müssten die Etablierten jedoch über ihren Schatten springen und sich eingestehen, dass der Erfolg der AfD nicht einfach das Ausmaß der Dummheit der Menschen in Sachsen-Anhalt anzeigt, sondern das Ausmaß des Versagens aller anderen Parteien.

Arbeiter und Arbeitslose – einst das klassische Wählervolk der SPD – sind in Heerscharen zur AfD gewechselt. Der Hartz IV-Verrat und die seit Jahren anhaltende Arroganz der SPD gegenüber dem “Pöbel” rächt sich nun. Die konservativsten Männer wählten in ihrer Mehrheit AfD, die konservativsten Frauen die CDU. Das zeigt: Die Spaltung der Gesellschaft verläuft keinesfalls nur zwischen Deutschen und Ausländern, Begüterten und Armen, hohen und niedrigeren Bildungsabschlüssen, sondern Mitten durch die Familien. Der Streit um wirksame Mittel, von den Regierenden gehört zu werden und eine Lösung der brennendsten Fragen zu erzwingen, wird so erbittert geführt wie lange nicht mehr.

Tatsache ist: Es ist noch nicht alles verloren, aber was verloren ist, wurde verspielt. Bei der Frage nach den Ursachen von Wahlentscheidungen waren die Parteien viel zu oft mit sich selbst beschäftigt und meinte, sie hätten nur nicht richtig erklärt, was sie wollen, was mit einschloss, dass die abtrünnigen Wähler nur zu blöd waren, das Gesagte zu verstehen. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten war freilich völlig ausgeschlossen, dass Gegenstimme vielleicht gerade dadurch entstanden sein könnten, weil der Wähler sehrwohl verstand und das, was er hörte und sah einfach nicht oder nicht haben wollte. Genau an der Stelle zeigt sich Mündigkeit, die so oft propagiert wird. Schade nur, dass die Propaganda immer dann verstummt, wenn dabei nicht das gewünschte Ergebnis herauskommt. Es geht jetzt nicht darum, mit der AfD um den rechten Rand zu wetteifern. Es ist auch nicht hilfreich, auf die Inkarnation des Bösen weiter einzudreschen wie auf einen bösen Dämon. Vielmehr müssen die Partei die Stimmen der Menschen nicht nur an einem Tag in fünf Jahren hören, sondern jeden Tag fünf Jahre lang.

Einer der wenigen, die im Moment noch den Durchblick haben, ist Horst Seehofer (CSU) und das nicht von ungefähr. Schließlich steht er einer Partei vor, die ganz ähnlich wie die AfD tickt. Mit der AfD ist laut Seehofer rechts von der Union eine Partei entstanden, die länger Bestand haben wird. Sieht man auf die Zusammensetzung der AfD-Wählerschaft – mehr als zwei Drittel Protest – dann bekommt Seehofer dann recht, wenn Bundeskanzlerin Agela Merkel so weiter macht wie bisher und danach sieht es aus. Dazu sei nochmals angemerkt: Es geht um weit mehr als die Einwanderungspolitik. Es geht um die inzwischen deutlich sichtbaren sozialen Verwerfungen und den massiven Verlust von Sicherheitsgefühl und Vertrauen in einem bereits beachtlichen und weiter wachsenden Teil der Bevölkerung.

Auch die “Pinocchio-Presse” muss sich die Frage gefallen lassen, wie lange sie noch aus ihrem Elfenbeinturm heraus auf den vermeintlichen Bodensatz der Gesellschaft eindreschen und so die Stimmung weiter anheizen will. Journalisten sollen Beobachter sein. Ihre Aufgabe ist Information, nicht Dressur. Exemplarisch für die völlige Entfernung von den Grundsätzen eines Hans-Joachim Friedrichs ist der Spiegel. So begann er eine Reportage über Sachsen-Anhalt nach der Landtagswahl mit folgendem Satz: “Die ausländerfeindliche Möchtegern-Alternative für Deutschland holt in Sachsen-Anhalt ein Rekordergebnis, obwohl es dort praktisch keine Ausländer gibt.” Bei so viel bräsiger Selbstgefälligkeit und Propaganda fällt einem nichts mehr ein. Problemlösen sieht anders aus. Dialog auch.

Statistische Auswertung der Landtagswahl vom 13. März 2016

https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_Sachsen-Anhalt_2016