Aufregung um Tausende Namen ohne Unterschied

von 6. Juli 2017

Im Stadtrat, in der Kulturlandschaft, in privaten Forschungseinrichtungen, bei Medien, in Agenturen, im Sport, bei Bildungsträgern, in Autohäusern und Hotels – quer durch die Stadt wirken und wirkten Informelle Mitarbeiter und zum Teil auch ehemalige Stasi-Offiziere an vorderster Front. Statt von Reue war bisher nur von Rechtfertigung zu hören. Auf der Liste von 1992, die vom Neuen Forum vom 16. Juli bis 8. August 1992 öffentlich ausgelegt wurde, standen 4000 von mehr als 6000 Namen und für die Leser blieb zudem völlig unklar, wie das Wirken der einzelnen Personen moralisch und juristisch einzuordnen ist. Das war auch ein wesentlicher Grund, warum der Bundesgerichtshof (BGH) am 12. Juli 1994 entschied, dass die Auslegung und Verbreitung einer solchen unqualifizierten Liste unzulässig ist, denn „eine derart umfangreiche Liste wird nicht vollständig fehlerfrei sein.“ So könnten von der Stasi unter anderem Personen als Informelle Mitarbeiter (IM) geführt worden sein, die schon lange keinen Stasi-Kontakt hatten oder den Kontakt abbrachen oder (in wenigen Fällen) zu keiner Zeit mit der Stasi zusammenarbeiteten.

Nach dem Urteilsspruch verschwand die Liste, tauchte immer wieder auf, später auch im Internet, um erneut zu verschwinden. Dabei hatte der BGH nur erklärt: „In der Öffentlichkeit darf diese Liste nicht ohne die vollständige Vorbemerkung verwendet werden.“ Gemeint war damit, dass die Liste mit der Bemerkung zu versehen wäre, welche Unschärfen, Schwächen und Fehler sie enthalten kann. Bei den meisten Lesern löste die Liste einerseits Klarheit, andererseits Enttäuschung und Ärger aus. Vermutungen waren bestätigt oder entkräftet, falsche Freunde enttarnt. Von Lynchjustiz ist nichts bekannt, wohl aber von Medienkampagnen, die unter anderem einen Hotel-Direktor trafen. Am Ende war die Liste erst der Anfang einer langen verzweifelten Suche nach Spuren der Vergangenheit. Die Zweigstelle Halle der Bundesbehörde für die Stasiunterlagen (BStU) hatte Anfang 2017 jedenfalls noch immer so viele Anfragen im Eingang, dass die Fragenden bis zu drei Jahre auf Antwort warten mussten.

Wer seine Unterlagen endlich bekommt, findet nicht selten hanebüchene Berichte, deren Relevanz fragwürdig erscheint und die eine streckenweise absurde Datensammelwut offenbaren. Freilich liefern heutige Enthüllungen über vornehmlich angloamerikanische Geheimdienste und Internetdienstleister ehemaligen Stasi-Mitarbeitern und ihren politisch-moralischen Unterstützern Steilvorlagen, um die Arbeit des DDR-Geheimdienstes zu verharmlosen und zu relativieren. Dabei ging die Arbeit des Dienstes nachweislich weit über die legitime Aufgabe des Staatsschutzes hinaus.

Unklar ist nach wie vor, wer die Liste zusammengestellt hat. Dass es Bürgerrechtler waren, ist unwahrscheinlich. Bleibt die Annahme, dass höhere Chargen des DDR-Spitzelapparats das Material auslieferten, denn es war geeignet, allgemeine Unruhe zu stiften im neuen Staat und das Wirken der Spitzenkräfte zu relativieren. Tatsächlich bleiben die Untersuchungen zu den Stasi-Akten wahrscheinlich auch künftig lückenhaft, weil Genossen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) bereits im Herbst 1989 damit begannen, massenhaft Unterlagen wegzuschaffen und systematisch zu vernichten. Auch ist Material in erheblichen Ausmaß verloren gegangen, als Wutbürger, möglicherweise auch mit verdecken Kräften des MfS, bei der Erstürmung von Stasizentralen zahlreiche Materialien zerstörten oder mitnahmen.

Das Ende der DDR hat – so oder so – den Blick auf eine Institution freigegeben, deren Arbeit und Materialsammlungen in aller Regel geheim bleiben für Otto-Normalverbraucher. Derweil ist die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte bisher daran gescheitert, dass die DDR offiziell zumeist auf Mauerbau und Stasi reduziert wird. Das hat Widerstand provoziert.

Buch über die Liste von Halle

http://www.zeit-geschichten.de/visuals/b_th_12.pdf (Pdf-Datei)

Berichte über IMs aus Halle

http://www.zeit.de/feature/stasi-akten-akteneinsicht-biografien

Entscheidung des Bundesgerichtshofes zur Stasi-Liste von Halle

https://www.jurion.de/urteile/bgh/1994-07-12/vi-zr-1_94/

wie mit Technik vom Fraunhofer-Institut teilvernichtete Stasiunterlagen rekonstruiert werden

https://www.ipk.fraunhofer.de/geschaeftsfelder/automatisierungstechnik/fachabteilungen/sicherheitstechnik/zentrale-fue-aktivitaeten-der-abteilung-sicherheitstechnik/virtuelle-rekonstruktion/automatisierte-virtuelle-rekonstruktion-der-zerrissenen-stasi-akten/