Natürliche Straßennamen wären besser

von 29. Juli 2015

In der „Händel“-Stadt Halle an der Saale wurde erst um Felix Graf von Luckner gestritten. Bis heute heißt kein Platz und keine Straße nach ihm, obwohl Zeitzeugen seine wichtige Rolle bei der Rettung Halles 1945 vor der totalen Zerstörung bestätigen. Die Gegner der Benennung stützten sich allen Ernstes auf „Ehrengericht“ der Nazis, das Luckner Pädophilie angehängt hatte. Natürlich ist Kinderschändertum kein Kavaliersdelikt, aber Beweise gibt es in dem Fall keine. Seit 2010 nun also sind die Kanonen der Tugendwächter auf den Wissenschaftler Emil Abderhalden gerichtet. Die Vorwürfe wiegen schwer: Vereinfacht gesagt war der Mann ein Wissenschaftler zweifelhafter Natur und den Nazis zugetan, also in der inzwischen populären Sichtweise selbst ein Nazi. Denn er traf Aussagen zu Rassen und er schloss Juden aus der Leopoldina aus, der er seit 1932 und auch während der zwölf NS-Regime-Jahre vorstand. In welchem Kontext das eine und das andere geschah, ist für die Angreifer offenbar belanglos. Verbrannt ist auch der, an dem etwas Dreck hängen bleibt. Dabei hätte Abderhalden doch Deutschland verlassen und andernorts Karriere machen können, mischt sich der Lokalhistoriker Knut Germar in die Diskussion der Professoren ein. So einfach ist das also: Wer geht, bleibt unschuldig. Und wer bleibt und einfach nichts tut? Und wie verhält es sich mit dem „Befehlsnotstand“? Nein: „Wer Unrecht duldet, ohne sich dagegen zu wehren, macht sich mitschuldig“, hat Gandhi gesagt und traf den Nagel auf den Kopf.

Zu hinterfragen ist indes auch die Erklärung der „Privatinitiative“, ihr ginge es darum, „absehbaren Schaden“ von der Universität abzuwenden. Die Floskel weckt den Verdacht, dem Vorhaben die größtmögliche Legitimation verleihen zu wollen. Doch der moralische Zangengriff entspringt der Sorge um den eigenen Ruf. Welcher Ruf? Auch im aktuellen Hochschulranking 2015 und der entsprechenden Presseerklärung der Universität Halle dazu ist keine Rede von den Sozialwissenschaftlern. Statt dessen feierte die Universitätsleitung im Mai 2015 das sehr gute Abschneiden der Geografie, Geowissenschaften, Medizin, Physik, Pflegewissenschaft und Zahnmedizin.

Wenn es tatsächlich um die ganze Universität ginge, wäre nach einem anderen Geistesmann zu fragen: Martin Luther. Der war, in der Logik der heutigen political correctness, ein Antisemit erster Güte. Schließlich schrieb er in weiten Teilen bereits das nieder, was im NS-Regime zur Shoa führte. Gewiss ist es, um den Gedanken fortzuführen, kein Zufall, dass die Universität im NS-Regime den Namen Luthers bekam, genauer gesagt am 10. November 1933 und damit exakt ein halbes Jahr nachdem auch auf dem Universitätsplatz in Halle die Bücher linker und jüdischer Autoren verbrannt wurden. Wenn es also wirklich um die Universität in Halle ginge, müsste diese sich den Namen Friedrich des Weisen zurückholen. Doch einen Heiligen tastet niemand an, schon gar nicht in der ihm gewidmeten (Luther)Dekade. Oder wie wäre es mit Dorothea-Erxleben-Universität?

Wenn schon um Straßennamen gestritten wird, so tun sich in Halle auch an anderer Stelle Fragen auf. Wie steht es etwa um den einstigen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und dessen Eskapaden mit „zugeführten“ Liebesdienerinnen, die nach Jahrzehnten des Emanzipationskampfes gewiss nicht als vorbildhaft gelten können. Sein Name ersetzt seit 2012 den des Kommunisten Philipp Müller, der im Straßenkampf gegen die Wiederbewaffnung der BRD, also im ehrenwerten Friedenskampf, Opfer polizeilicher Gewalt wurde. Es ist nur ein Beispiel, wie wohlfeile Mythen, Legenden und Deutungen dem einen in einen Rang verhelfen, der dem anderen verwehrt wird. So werden all jene, die Straßen nach Menschen benennen wollen, mit dem Risiko leben müssen, dass der Mensch, den sie verehren, keine so saubere Vita hat, wie es sich die Verehrer zusammengedichtet haben. Personenkult, egal in welcher Form, ist immer problematisch, denn nebst dem Risiko jemanden aus einem Grund zu ehren, der aus einem anderen Grund die Ehrung nicht wert ist, wird die Leistung Einzelner über die Leistungen anderer gestellt, die in nicht wenigen Fällen ebenbürdig waren, nur nicht so bekannt. Namen aus der Welt der Pflanzen und Tiere, aus Geographie und Astronomie wären die kluge Alternative und zeitgemäßer als der nationale Pathos aus der Kaiserzeit.

Am Ende darf man fragen: Wie ist es um die Vorbildfunktion der Tugendwächter bestellt? Etwa beim Verteiler und Erstunterzeichner des Anti-Abderhalden-Papiers Johannes Varwick, Politikwissenschaftler und Lehrstuhlinhaber, der jüngst bei einer SPD-Veranstaltung zur Ukraine offen Partei ergriff für die nationalistische Regierung in Kiew und dieser NATO-Waffen, womöglich deutsche, geben wollte für das Kriegsgebiet Ostukraine und damit statt der gebotenen Neutralität einer wissenschaftlichen Analyse den Propaganda-Ton eines Wehrbeauftragten traf.

Schließlich und letztlich bleibt die Erkenntnis, dass sich immer die Geschichten am schnellsten verbreiten, die dem jeweiligen Erzähler die liebsten sind. Genau da muss letztlich auch die wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der Leopoldina durch die Leopoldina selbst und erst recht deren Interpretation mit Vorsicht gesehen werden. Denn nach aller Erfahrung wird sich niemand selbst beschädigen. Schon gar nicht auf der Ebene einer Nationalakademie. Am Ende wird man sich wohl auf die besonderen Umstände einer schwierigen Zeit zurückziehen. Womit die Diskussion wieder am Anfang wäre.

Brandts Frauengeschichten

http://www.welt.de/geschichte/article115386989/Willy-Brandt-und-seine-erotischen-Zufuehrungen.html