Reaktionen aus Sachsen-Anhalt zu Hartz IV

von 9. Februar 2010

Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag die Regelsätze für Hartz IV für verfassungswidrig erklärt. An dieser Stelle möchten wir Reaktionen aus Sachsen-Anhalt zum Urteil der Karlsruher Richter veröffentlichen.

„DIE LINKE begrüßt dieses Urteil, entspricht es doch ihren langjährigen Forderungen nach bedarfsdeckenden Regelsätzen, die sich an den realen Bedürfnissen eines Menschen orientieren sollen“, sagt die sozialpolitische Sprecherin der Fraktion Birke Bull. „Deshalb ist eine Erhöhung der Regelsätze insgesamt unerlässlich. Und für Kinder und Jugendliche gilt es, eigene Ausgangspunkte für eine den Realitäten des Lebens entsprechende Berechnung zugrunde zu legen. Insbesondere die Berechnung der Regelsätze ohne jegliche Berücksichtigung von Bildungskosten spricht dem Anspruch einer Wissensgesellschaft Hohn. So wird ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen abgehängt, werden ihnen Chancen auf Entwicklung und berufliche Zukunft genommen – damit muss Schluss sein, auf diese Weise vergeigt Deutschland seine Zukunft. Die Bundesregierung ist aufgefordert, zügig in einem transparenten Verfahren für eine verfassungskonforme und vor allem bedarfsdeckende Neuberechnung zu sorgen.“

Die sozialpolitische Sprecherin und parlamentarische Geschäftsführerin der FDP-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt, Dr. Lydia Hüskens, erklärte: "Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gilt es zu respektieren. Wenn die Verfassungsrichter mehr Transparenz bei der Berechung fordern, liegt darin auch eine Chance, die Akzeptanz für das System zu erhöhen. Für die Bürger muss nachvollziehbar sein, wie der Bedarf zu Stande kommt. Wir müssen allerdings im Auge behalten, dass der Anreiz, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, nicht verloren geht. Richtig bleibt: Wer arbeitet, muss mehr haben, als der, der nicht arbeitet. Ziel muss deshalb ein Steuer- und Transfersystem aus einem Guss sein. Das wäre einfacher, für die Bürger verständlicher und für den Staat besser kontrollierbar. Deshalb bleibt das Bürgergeldmodell für uns ein Ziel. Bei der Umsetzung des Urteils sollte die Bundesregierung zudem prüfen, ob es möglich ist, neben der Neuberechnung der Regelsätze auch Bürokratie abzubauen und damit die hohen Verwaltungskosten zu reduzieren. Eine Möglichkeit wäre, etwa pauschale Leistungen für Landkreise oder Regionen bei den Kosten der Unterkunft zu definieren. Aufwendige Einzelfallprüfungen könnten damit entfallen.
Überfällig ist vor allem die Berechnung der Bedarfssätze für Kinder. Wir müssen allerdings dafür sorgen, dass die eingesetzten Mittel auch beim Kind ankommen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass direkte Geldzahlungen immer der richtige Weg sind."

Sachsen-Anhalts Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) hat nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu den Hartz-IV-Regelsätzen für Kinder eine grundsätzliche Neuordnung der Kinder- und Familienförderung in Deutschland angemahnt. „Der Spruch der Richter hat Bedeutung weit über die Regelung der Hartz-IV-Sätze hinaus“, erklärte Bullerjahn in Magdeburg. Er fügte an: „Ich sehe eine massive Gerechtigkeitslücke, die wir schließen müssen. Hier müssen wir umsteuern. Kinder dürfen nicht dafür bestraft werden, dass ihre Eltern keine Arbeit haben. Wir brauchen ein Finanzierungssystem, dass gleiche Bildungs- und Entwick-lungschancen für alle Kinder garantiert.“ Bullerjahn sprach sich dafür aus, bei der künftigen Ausgestaltung der Kinder- und Familienförderung „zugunsten jener, die wenig haben“ umzuschichten.

Als schallende Ohrfeige für die Bundesregierung bezeichnet der PARITÄTISCHE Sachsen- Anhalt das Urteil. Mit der Aufforderung des Gerichtes, bis zum 31.12.2010 in einem transparenten Verfahren den wirklichen Mindestbedarf von Kindern für ein gesundes und altersgerechtes Aufwachsen festzustellen, werde eine jahrelange Forderung des PARITÄTISCHEN bestätigt. Die jetzige Pauschalierung der Regelsätze für Minderjährige, die Kinder willkürlich zu „kleinen Erwachsenen“ mache, lasse Bedürfnisse wie kinderspezifische Ernährung, Bekleidung, Spielzeug und Bildung völlig außer Acht. Der PARITÄTISCHE habe deshalb bereits im September 2008 eine Expertise veröffentlicht, in der ein Modell zur Berechnung bedarfsgerechter Kinderregelsätze vorgeschlagen wird- gestaffelt nach 3 Altersgruppen. Ausdrücklich begrüße man, dass durch eine Öffnungsklausel auch die Möglichkeit eingeräumt wird, neben den monatlichen Zuwendungen, zusätzliche individuelle Bedarfe z.B. für die Teilnahme an Klassenfahrten, für Sportvereine, Nachhilfe usw. gewährt werden. Die Landesgeschäftsführerin, Dr. Gabriele Girke, betonte, dass „nicht nur die unmittelbare finanzielle Unterstützung der Familien wichtig sei, sondern auch der Ausbau sozialer Infrastruktur im Bereich der Bildung, Gesundheit, Kultur und die entsprechenden Zugangsmöglichkeiten für alle Kindern und Jugendlichen.“ Damit werden Chancen auf Teilhabe und Zukunftsperspektiven ermöglicht, dies sei im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger des Landes.

Auch die Diakonie Mitteldeutschland begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. „Die Entscheidung ist für unsere Region von großer Reichweite. In Sachsen-Anhalt und Thüringen leben in den größeren Städten bis zu einem Drittel der Kinder und Jugendlichen von Sozialgeld. Ein eigenständiger, bedarfsgerechter Regelsatz im Hartz-IV-Bezug ist hier überfällig und wird von uns seit Jahren gefordert.“ kommentiert Eberhard Grüneberg, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland, die Entscheidung in Karlsruhe. Jetzt müsse der Gesetzgeber schnellstmöglich handeln und die Regelsätze kindgerecht und existenzsichernd ausgestalten. Die Diakonie Mitteldeutschland begrüßt außerdem die weitergehende Entscheidung des Gerichtes. Sie verpflichtet den Gesetzgeber, die bisherige Berechnung nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zu überprüfen und eine neue Berechnungsgrundlage zu schaffen. Um das Armutsrisiko für Familien zu verringern, müssen die neuberechneten Kinderregelsätze nach Ansicht der Diakonie durch einen umfassenden Ausbau der Infrastruktur begleitet werden. Dazu gehöre unter anderem ein kostenfreies Mittagsessen in Kindertrageseinrichtungen und Schulen sowie kostenfreie außerschulische Bildungsangebote. "Ein in sich stimmiges Hilfesystem verbindet Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten von Geburt an mit umfassenden Hilfen für Familien und einer ausreichenden Existenzsicherung. Eine solche Investition in Gerechtigkeit ist auch eine Investition in die Zukunft. Wir müssen verhindern, dass Armut in Deutschland weiter vererbt wird und ganze Bevölkerungsgruppen in Ausgrenzung leben", hebt Oberkirchenrat Grüneberg hervor. Gerade im Jahre 2010, dem Europäischen Jahr gegen Armut und Ausgrenzung, muss alles unternommen werden, um Armut von Kindern und Erwachsenen zu minimieren und der Entwicklung von Armutskarrieren entgegenzuwirken. Die Überprüfung der Berechnungsgrundlagen für die Regelsätze sowie deren Höhe sind ein wichtiger Baustein, um Kinder- und Familienarmut zu verhindern. Dazu muss die eine neue Berechnungsgrundlage wissenschaftlich erarbeitet werden. Außerdem muss die bisher geltende Anpassung der Regelätze an den Rentenwert aufgehoben werden.

„Die heutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Gesetzgeber die Hartz-IV-Regelsätze zu konkretisieren und stärker dem Lebensalltag der Betroffenen anzupassen hat, verbessert insbesondere die Entwicklungschancen für Kinder“, kommentiert Justizministerin Prof. Dr. Angela Kolb die heutige Entscheidung aus Karlsruhe. „Die Überarbeitung muss – wie von den Richtern gefordert – schnellstmöglich erfolgen, damit die Bürger endlich aufgrund transparenter, eindeutiger und verständlicher Regelungen erkennen können, welche Rechte sie haben. Der Richterspruch ist vor allem im Sinne unserer Kinder und ihrer altersgerechten Entwicklung überfällig. Zugleich eröffnet er grundsätzlich die Chance auf einen Neubeginn, der von der Bundesregierung zwingend genutzt werden sollte. Das betrifft sowohl die Höhe der Leistungen nach SGB II als auch eine Nachbesserung bei der Verwaltungsorganisation und den Verwaltungsverfahren. Dabei müssen endlich auch die Erfahrungen aus der Praxis sowohl in Behörden, als auch von Rechtsanwälten und Gerichten berücksichtigt werden. Entsprechende Vorschläge aus der Justiz liegen seit längerem auf dem Tisch.“ Dann könnte schließlich auch die Klageflut vor den Sozialgerichten eingedämmt werden.

Katrin Budde, Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion und SPD-Landesvorsitzende, erklärte: „Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eine klare Richtschnur dafür auf den Weg gegeben haben, wie die Berechung der Hartz IV-Regelsätze verfassungsgemäß gestaltet werden muss. Bedarfsgerechte Regelsätze sind künftig an den tatsächlichen Bedürfnissen des Einzelnen zu orientieren. Das gilt besonders für Kinder, die eigene Regelsätze brauchen und deren bedarfsgerechte Unterstützung den Zugang zu Bildung und damit ihre altersgerechte Entwicklung sicherstellen muss. Nur so haben sie die Chance auf eine selbstbestimmte Zukunft. Die Bundesregierung ist aufgefordert, bei der Neuregelung der Regelsatzbemessung Vorsorge dafür zu treffen, dass soziale Leistungen wie Kindergelderhöhungen allen Kindern gleichermaßen zu Gute kommen.“

Sachsen-Anhalts Sozialminister Norbert Bischoff (SPD) hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Hartz-IV-Regelungen begrüßt. Bischoff erklärte in Magdeburg: „Das Urteil bedeutet eine wichtige Weichenstellung zu mehr Gerechtigkeit. Die Festsetzung der Regelsätze muss konkret und nachvollziehbar anhand von Bedarfskriterien erfolgen. Die Regelsätze für Kinder müssen sich natürlich am konkreten Bedarf von Kindern orientieren. Dazu gehören Aufwendungen für Bildung, Gesundheit ebenso wie für soziale und kulturelle Teilhabe.“ Der Minister prognostizierte steigende Kosten bei einer konsequenten Umsetzung des Urteils. Er sagte: „Wir müssen erreichen, dass dieses Geld auch wirklich bei den Kindern ankommt und für deren Entwicklung eingesetzt wird. Niemand soll mehr sagen können, mein Kind kann nicht am Schulessen teilnehmen oder nicht im Sportverein turnen, weil das Geld nicht vorhanden ist.“ Zugleich betonte der Minister: „Mehr Arbeit und mehr gut bezahlte Arbeit ist das wirksamste Mittel gegen Armut und Bedürftigkeit. Ein Mindestlohn steht daher weiterhin auf der Tagesordnung.“