Paulusgemeinde erinnert sich

von 20. Oktober 2009

Montag 19. Oktober. Selten wie seit Jahren nicht mehr war die Pauluskirche so gut gefüllt.
Den Altarraum schmückt einlanger Tisch, gedeckt mit Krepppapier, Teelichter brennen darauf. Publizist Wilfried Völker spielt auf dem Saxophon, in den avantgardistischen Tönen klingen verdeckt und leise Melodiefragmente der westdeutschen Nationalhymne an. Viele sind gekommen, so auch Hans Georg Sehrt, Pfarrer Ulrich Schlademann, Frank Eigenfeld.
Es kursieren Zettel, schlechte Xerokopien, vervielfältigt im Gemeindebüro.
Sechs Thesen stehen darauf.
„AUFRUF ZUR GEWALTFREIHEIT IN UNSERER STADT“

Gewalt ist kein Mittel zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte. Angesichts der aktuellen Situation in unserer Stadt halten wir jetzt für das Wichtigste:

1. Selbstverpflichtung zur strikten Gewaltfreiheit…

Es ist der 19. Oktober. Es ist 2009. Die Vorlage der Zettel sind offenbar noch das Original von damals, größer kopiert allerdings, besser lesbar für die Beteiligten von einst. Man kann sich minutiös erinnern. Die drei Beteiligten von einst tragen es trocken vor. Wer wo gestanden hat. Wie die Masse sich verhalten hat. Wie und wann man sich entschied, die Versammlung von der Marktkirche in die Pauluskirche zu verlegen. Aus Sicherheitsgründen, denn da hätte man vielleicht besser fliehen können, wenn doch die „chinesische Lösung“ (Frank Eigenfeld) gedroht hätte.
An einen Wunsch kann er sich gut erinnern: „hoffentlich bleibt es friedlich auf unserer Seite“.

Bilder von der einstigen Versammlung werden gezeigt. Bärtige Männer in Pullovern vor allem, gelegentlich Frauen dazwischen. Die Hände zur Abstimmung erhoben.

Über ihre einstigen Emotionen werden die bescheidenen, schmallippigen Helden von damals befragt, von zwei Interviewern, die man bewusst „nicht aus dem Paulusviertel“ ausgewählt hat. Und hier verschwimmt die Erinnerung dann mehr, lässt das sonst sauber protokollierte Geschehen im diffusen Oktobernebel verschwinden. „Die Bilder zeigen eigentlich weniger Angst, sondern doch Freude und Heiterkeit in den Gesichtern“, fragt einer der Interviewer, der offenbar nicht nur nicht aus dem Paulusviertel stammt. Doch, man habe schon Angst gehabt, etwas auf jeden Fall. Man konnte ja doch nicht wissen. Man habe damals gehört , dass die Volkspolizei im Viertel Übungen abgehalten habe – eindeutige Zeugen gäbe es aber nicht- bis heute. Aber man wäre dankbar, wenn sich jemand melden würde, der es aus erster Hand bezeugen könne. Die Wege von Informationen und Ideen liefen damals anders als heute, aber nicht weniger effektiv. Nur so lässt sich erklären, dass die Demonstrationen und Versammlungen
friedlich abliefen und immer mehr Teilnehmer fanden. Freie Presseberichterstattung gab es nicht, Internet nicht, kein Twitter, kein Halleforum.
Und dass es dem Berichterstatter der Veranstaltung heute schwer fällt, die Vorgänge von damals auf die heutigen Gegebenheiten in Halle zu übertragen, vermag wohl auch die gewaltigen Wandlungen von zwanzig Jahren zu dokumentieren.