Ein Hallore in der Waisenhausbuchhandlung

Ein Hallore in der Waisenhausbuchhandlung
von 20. Februar 2022

Mittendrin in dieser Stadt lächelt ein junger Mann zwischen seinen geordneten Büchern und spricht von seiner Faszination dieser Stadt. Ihn fasziniert „die Vielfalt, sowohl im Stadtbild als auch bei den Einwohnern und die bunte und lebendige Kulturlandschaft.“ Der junge Mann heißt mit bürgerlichen Namen Nils Wagner. Aufgewachsen in der Nähe von Magdeburg, nahm er die Chance seines Lebens wahr. „Mir bot sich die Möglichkeit, eine der ältesten noch existierenden Buchhandlungen Deutschlands und damit eine über 300-jährige Tradition zu übernehmen.“ Womit wir bei der Lesefreudigkeit der Hallenser sind, die seine Waisenhausbuchhandlung an den Franckeschen Stiftungen besuchen In seinem „Raubschiff“, so hieß das schlichte Gebäude vor Franckes Kauf 1706 (für 1000 Taler), empfängt er heute einen etwas anderen Besuch. Damals sollte aus dem Haus ein Damenstift werden. Doch wie es meistens so ist, kommt es ganz anders.

Der etwas andere Besuch kommt gerade aus der Buchhandlung Molsberger, die auch noch nie so „seltsame Gestalten“ in ihrer Buchhandlung gesehen hatte. So verfolgt Frau Krahl, die Leiterin der Buchhandlung amüsiert dem Treiben der Gesellschaft und wird gleich in die Fotos mit einbezogen. Dieser „etwas andere Besuch“, der nun vor der Waisenhaus Buchhandlung stand, besteht aus zwei Damen und zwei seltsam gekleideten Herren, die wie aus einer anderen Zeit scheinen. Das heißt, eine der Damen hat zwei Fotoapparate umhängen und entpuppt sich als Fotografin des MSW-Welten Verlags. Die anderen sind dann aus einer anderen Zeit. So kommt neben besagter Fotografin, ein junges Mädchen, mit Salzsäckchen am Gürtel und einem netten Blumenkranz auf dem Kopf herein. Es handelt sich um die Salzmagd des Salzstadtclans e.V. und die lebte laut ihren Geschichten im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts. Auf dem Fuße folgt ihr ein rundlicher Typ in Mittelalterkleidung. Mit seinem pelzbesetzten Mantel und einer großen Amtskette um den Hals scheint er eher vermögend zu sein. In der Tat handelt es sich um den reichen Salzhändler Erasmus von Halberstadt des Salzstadtclans e.V. Schlussendlich betritt ein stattlicher Mann im roten Pelz (der Mantel wird Pelz genannt), schwarzer dreiviertel langen Hose, blauen Strümpfen, Dreispitz, 18 Silberkugeln am Wams und auffälligen Silberschnallen an den Schuhen den Buchladen. Es ist der Hallore Günter Frosch, um den es sich heute hauptsächlich dreht.

Pure Geschichte besucht den Buchhändler Nils Wagner am heutigen Tag. Wie er selbst zugibt, wünscht er sich „viele Begegnungen mit lesebegeisterten und neugierigen Menschen in (m)seinem Laden und bei Veranstaltungen in der Stadt.“ Die bunte Truppe aus Mittelalterfiguren und Halloren im Festkleid liest nicht nur gern, sondern bringt auch obendrein Bücher über die Salzstadt Halle (Saale) mit. In ihrem Gepäck befinden sich Fotogeschichten über die Abenteuer der Salzmagd und dem Salzkaufmann von 1474 bis 1478 („Der Salzkaufmann und die Salzmagd“), oder den mittelalterlichen Fotostadtführer „Eine Salzmagd erzählt von der Salzstadt Halle (Saale)“. In Letzterem erklärt die Salzmagd die Sehenswürdigkeiten der Salzstadt Halle anhand einer fotografischen Führung. Mittelalter trifft Gegenwart, wenn man so will.

Heute geht es aber, wie schon vermeldet, in erster Linie über das Buch des Hauptmanns a.D. Günter Frosch mit dem bezeichnenden Titel „Ein Hallore erzählt…“ Günter plaudert in dem Buch einige Anekdoten aus seinem Hallorenleben aus und zeigt es in Bildern. Die Froschs sind eine uralte Hallorenfamilie aus Halle, wie man dem Stammbaum aus dem Buch entnehmen kann.

Das hat Nils Wagner so noch nie erlebt. Geschichte übergibt dem historischen „Raubschiff“, das sein Gesicht zur „Waisenhausbuchhandlung“ gewandelt hat, sozusagen hautnah selbst Geschichte(n) aus seiner Stadt.

Schnell werden einige Fotos gemacht, weil Zeichnungen, wie sie früher angefertigt wurden, wohl zu lange gedauert hätten. Der „Herr“ der Bücher mag Bücher, die ihn „stilistisch oder inhaltlich überraschen und herausfordern“. Ob dies mit den Büchern vom MSW-Welten Verlag geschieht, wird sich zeigen, aber immerhin hat die Truppe aus Mitgliedern des „Salzstadtclans e.V.“, dem MSW-Welten Verlag, dem Halloren Günter Frosch, Nils Wagner positiv überrascht.

Bleiben nach solch einem geschichtlichen Besuch noch Wünsche offen? Nils Wagner nickt und wird auch ein klein wenig nachdenklich: Die Stadt, so sagt er, „muss dringend fahrradfreundlicher werden und…“, jetzt wird er sehr ernst, „sich große Mühe geben, ihre vielfältige (freie) Kulturszene zu erhalten.“ Gedankenverloren schaut er seinen Gästen nach, die wohl wieder in ihre Zeit zurückkehren.

Fotos: Sandy Wohlleben / Michael Waldow