Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen fordert Errichtung eines Dokumentations-und Begegnungszentrums im ehemaligen Jugendwerkhof

von 14. Oktober 2015

Im System der Spezialheime der ehemaligen DDR wurden über 40 Jahre hinweg Menschen- und Kinderrechte, das Erziehungsrecht der Eltern, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Religionsausübung systematisch und teilweise schwer verletzt. Die Folgen wirken bis heute fort und beeinträchtigen die Betroffenen und ihre Angehörigen hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten.

Ralf Marten beschreibt im neu vorgelegten Band für Sachsen-Anhalt 48 Spezialheime, die neben den normalen Kinderheimen bestanden. Damit entsteht erstmalig eine Topographie der Jugendwerkhöfe, Durchgangslager und Spezialheime auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt in den früheren Bezirken Halle und Magdeburg.

Komplettiert wird die Arbeit durch Exkurse über den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, in denen Jugendliche aus den Spezialheimen als besonders harte Disziplinierungsmaßnahme befristet eingewiesen wurden, die Haftanstalten für Jugendliche, den Jugendhäusern Halle und Dessau sowie über das Arbeits-und Erziehungslager Rüdersdorf. Jugendliche erfuhren in den Heimen strukturelle Gewalt. Auch die Staatssicherheit kontrollierte die Heime und nahm Einfluss auf die Erziehung. Diese Gewalterfahrungen können durch den Heimkinderfond nicht harmonisiert werden. Die Betroffenen brauchen Anerkennung, Wertschätzung, Verständnis, Räume und Zeit zur persönlichen Aufarbeitung.

Ehemalige Heimkinder verdienen Respekt und Anerkennung als Menschen, die als Kinder und/ oder Jugendliche in den Repressionsapparat der SED- Führung gerieten und denen die die nötige Hilfe für einen guten Start ins Leben verweigert wurde. Ihre Teilfacharbeiterausbildungen aus den Jugendwerkhöfen wurden in den Betrieben der DDR nicht anerkannt, sie galten nach Entlassung als ‚asozial‘ und ‚gefährdete Jugendliche‘. Sie hatten es schwer, eine Arbeitsstelle und eine Wohnung zu finden. Für ihre „Betreuung“ gab es kein System. Das Volksbildungsministerium entließ jährlich zwischen 3.000 und 3.500 sogenannter ‚familiengelöster‘ Jugendliche, die nach der Zeit im Jugendwerkhof dringend einer Betreuung bedurften, die aber mangels anderer Möglichkeiten in der Regel vom ABV zu übernehmen war.

In Sachsen-Anhalt gibt es bisher keine Selbsthilfegruppen oder Netzwerke ehemaliger Heimkinder und keine Orte an ehemaligen Spezialkinderheimen, an denen Treffen Betroffener und persönliche Aufarbeitung über gelegentliche Begegnungen hinaus möglich wären.

Eine weitere Problematik ist die der Anerkennung von sekundären Folgewirkungen bei Eltern, Herkunftsfamilie, Ehepartnern und Kindern, die sich mit den vielfachen Folgewirkungen auseinandersetzen müssen und teilweise ebenfalls traumatisiert werden.

Deshalb darf es nach dem Heimkinderfond Ost keinen Schlussstrich unter dieses Thema geben.

Weitere Forschungen und Aufarbeitung zu mehr Anerkennung und Lebensqualität sowie politische Schritte am Thema sind hinsichtlich folgender Fragestellungen unbedingt notwendig. Die Landesbeauftragte fordert:

  1. Unterstützungsangebote hinsichtlich der spezifischen gesundheitlichen, sozialen und beruflichen Risiken ehemaliger Heimkinder und deren Angehörigen zu etablieren;

  2. Angebote zur Verbesserung der häufig prekären wirtschaftlichen Situation aufgrund vielfach verhinderter Berufsausbildung und Unterstützung hinsichtlich neuer beruflicher Perspektiven zu schaffen;

  3. Kreative, künstlerische, ökonomische Unterstützungsangebote für verbesserte gesellschaftliche Teilhabe ehemaliger Heimkinder zu entwickeln und zu realisieren sowie

  4. Initiativen zur Aufarbeitung und Verarbeitung der Vergangenheit ehemaliger Heimkinder zu unterstützen.

Die Landesbeauftragte fordert deshalb die Errichtung eines Dokumentations- und Begegnungszentrums in einem ehemaligen Jugendwerkhof und setzt sich dafür ein.

Dazu braucht es die Mitwirkung ehemaliger Heimkinder und lokaler, landespolitischer sowie bundespolitischer Unterstützung.

Hintergrund

Publikation der Landesbeauftragten
Ralf Marten: Ich nenne es Kindergefängnis.

Spezialheime in Sachsen-Anhalt und der Einfluss der Staatssicherheit auf die Jugendhilfe der DDR

Studienreihe der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, Bd.4

Die Gruppe der Kinder und Jugendlichen in Spezialheimen ist mit ca. 135.000 betroffenen Frauen und Männern eine große Gruppe, die vom sozialistischen Repressionssystem unter direkter Verantwortung des Ministeriums für Volksbildung erfasst, umerzogen und ausgebeutet wurde. Diese Gruppe erfährt bis heute in den Folgewirkungen keine angemessene Anerkennung. Der Heimkinderfond, der 2012 von Bund und Ländern aufgelegt wurde ist als ein wichtiger erster Schritt dazu zu werten.

Die Behörde der Landesbeauftragten berät vielfach sogenannte ehemalige Heimkinder in Fragen ihrer Biografie Klärung und strafrechtlicher Rehabilitierung. Seit Einrichtung des Heimfonds im Jahr 2012 durch den Bund mit den Ländern arbeitet die Landesbeauftragte eng mit der Anlauf und Beratungsstelle, die beim Sozialministerium errichtet wurde, zusammen.

Das Forschungsprojekt wurde auf Anregung der Landesbeauftragten im Jahr 2013 mit dem Sozialministerium und der Landeszentrale für politische Bildung hinsichtlich der historischen Aufarbeitung der Spezialheime in Sachsen-Anhalt vereinbart und weitgehend im Jahr 2014 durch den Dresdner Historiker Ralf Marten realisiert.

Mittlerweile wurde die Kooperation mit der Anlauf- und Beratungsstelle des Heimkinderfonds in Sachsen-Anhat hinsichtlich der Möglichkeit zu psychosozialer Beratung erweitert.

Die Gedenkstätte GJWH Torgau ist bundesweit die einzige Erinnerungsstätte für ehem. Heimkinder. Ehemalige Heimkinder aus Sachsen-Anhalt können sich bislang dort verankern, die Gedenkstätte in Torgau kann diese Aufgabe von der Kapazität her nicht auf Dauer erfüllen.