“Wie viele Menschen mussten da wegsehen?”

von 8. Mai 2011

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Vor 66 Jahren endete der Zweite Weltkrieg offiziell. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel unterschrieb am 8. Mai 1945 im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht. An die vielen Millionen von Kriegstoten erinnerten am Samstag auf Einladung von BDA und VDN zahlreiche Vertreter hallescher Parteien und Institutionen mit Kranzniederlegungen auf dem Getraudenfriedhof und dem Südfriedhof. Blumen und Gebinde wurden an den Gräbern der Sowjetsoldaten und der deutschen Antifaschisten niedergelegt. Für die Stadtverwaltung nahmen Finanzdezernent Egbert Geier und EfA-Chef Goswin van Rissenbeck an den Gedenkstunden teil.

“Wir gedenken heute derer, die aus Gefangenschaft und Folter gerettet wurden”, so Johannes Krause, Bezirksvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes und Vorsitzender der SPD-Stadtratsfraktion. Doch auch an jene, für die die Befreiung zu spät kam. Erinnert werden solle auch an die Soldaten der alliierten Mächte, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hätten, an die Menschen mit Mut zur Dissidenz, Menschlichkeit und Vernunft.

Doch Krause umtrieb die Frage, warum so viele der Ideologie der Nationalsozialisten hinterher rannten. Warum scheiterte die Weimarer Demokratie? Warum ertrugen die Deutschen die Diktatur, machten sogar aktiv mit? Die große Masse blieb von den Repressionen der Nazis verschont. Vielfach machte sie sich die geschürte Fremdenfeindlichkeit, den geschürten Neid zu eigen. Und verborgen geblieben sein kann all das Leid nicht. “Man musste wegschauen, denn das Unrecht war nicht zu übersehen”, so Krause. Die eingesperrten Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschafter hatten Nachbarn, erinnerte Krause. Auch die Kunden und Angestellten arisierter Geschäfte schauten weg.

Krause erinnerte explizit an ein hallesches Beispiel des Wegschauens. Bertha Bacher wurde mit 78 Jahren ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und starb dort rund zehn Monate später. Bacher kam aus einer bekannten halleschen Familie. Sie betrieb das Sporthaus “Julius Bacher” in der Leipziger Straße, das 1933 arisiert wurde. 1941 musste sie wegen der nationalsozialistischen Rassengesetze auch ihre Wohnung in der Richard-Wagner-Straße aufgeben, kam in das angebliche Jüdische Altersheim in der Dessauer Straße und von dort nach Theresienstadt. “Ihr Verschwinden kann nicht ungesehen geblieben sein”, so Krause. Doch auch beim KZ-Außenlager am Goldberg schauten viele weg. Seien es Wachpersonal, Zulieferer, Elektriker, Bäcker oder die Bestatter der Leichen. “Wie viele Menschen mussten da wegsehen?”

Warum also konnte das alles passieren? “Das Nazi-Regime hat es leicht gemacht zu glauben: solange ich mir nichts zu schulden kommen lasse, passiert mir auch nichts.” Krause mahnte deshalb an, die Freiheit des Wählens, die Freiheit der Debatte zu nutzen. “Freiheit ist wie ein Muskel: man muss ihn nutzen, sonst wird er schwächer.” Doch die Gleichgültigkeit sei auch heute in der Bevölkerung weit verbreitet, deshalb müsse man wachsam bleiben.

Auf dem Südfriedhof sprach Günter Lehmann vom Verein der Freunde der Völker der ehemaligen Sowjetunion Gedenkworte. “Die Würdigung der damaligen Ereignisse ist Pflicht für unser Volk.” Die Hauptlast an der Befreiung, am Feldzug “um der deutschen Nazi-Bestie das Genick zu brechen”, hätten das sowjetische Volk getragen. 27 Millionen Tote Sowjetbürger hätte der 2. Weltkrieg gefordert. Damit sei fast jeder zweite Tote des Zweiten Weltkriegs aus der Sowjetunion gekommen. Der hallesche Schriftsteller Kurt Wünsch sagte, die Deutschen hätten in der Sowjetunion gewütet wie wild gewordene Bestien, hätten vergewaltigt und gemordet. “Auch Sowjetsoldaten haben vergewaltigt”, musste Wünsch eingestehen, “aber sie haben niemals Gleiches mit Gleichem vergolten.” Und dabei hätten die roten Soldaten gewusst, was zuvor in ihrem Land passiert sei.

Musikalisch umrahmt wurden die Gedenkstunden vom Jugendblasorchester und vom zehnjährigen Berliner Geiger Akim Camara.