Wissenschaftler widersprechen Bundespräsident Gauck

von 20. Dezember 2012

Populäre Vorurteile dürfen keine Grundlage für folgenschwere politische Entscheidungen werden, mit denen die Hungersnöte weltweit weiter verschärft werden können.In einem offenen Briefreagieren 40 Wissenschaftler verschiedener Universitätenund Institute auf eine Rede des Bundespräsidenten JoachimGauck.

Anlässlich des Festaktes “50 Jahre Welthungerhilfe” am 14.Dezember sagte Gauck: “Wenn schwankende Preisearmen Menschen sprichwörtlich die Mittel zum Lebenabschöpfen, ist Handeln aus politischer, sozialer undnatürlich auch aus ethischer Notwendigkeit dringendgeboten. Ich finde es darum gut, wenn deutsche Banken Verantwortungsbewusstsein zeigen und entsprechendausgelegte Fonds prüfen und hoffentlich zurückziehen.”

Bundespräsident Gauck griff damit die Kritik einigerzivilgesellschaftlicher Organisationen an derFinanzspekulation mit Agrarrohstoffen auf. DieWissenschaftler weisen darauf hin, dass die von ihmaufgegriffene Forderung nicht dem aktuellenwissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht und bittenden Bundespräsidenten, einen Dialog in Gang zu setzen, indem die Erkenntnisse und Argumente der internationalenForschung Gehör finden.

Einige zivilgesellschaftliche Organisationen wie dieWelthungerhilfe, Oxfam oder Foodwatch fordern inöffentlichen Kampagnen den Ausschluss oder dieEinschränkung von Finanzinvestoren an den Terminmärkten, dadiese angeblich auf Kosten der Hungernden in armen Länderninvestieren. Ihre Position missachtet, so dieWissenschaftler, die aktuellen wissenschaftlichenErkenntnisse. Dies belegt die kürzlich veröffentlichteAuswertung der wissenschaftlichen Literatur, die dasLeibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- undOsteuropa (IAMO) gemeinsam mit dem Lehrstuhl fürWirtschaftsethik der Martin-Luther-UniversitätHalle-Wittenberg (MLU) vorgelegt hat: Die internationaleForschung kann die Vorwürfe nicht bestätigen. In dieserStudie weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass dasverstärkte Engagement von Finanzinvestoren auf denTerminmärkten für Nahrungsmittel eine wichtigeVersicherungsfunktion erfüllt. Die Investoren stehen imWettbewerb und ermöglichen es den Agrarproduzenten undZwischenhändlern, sich günstig gegen Preisrisikenabzusichern. Das sorgt für Planungssicherheit undverbessert die Produktionsbedingungen im Agrarsektor. Einedrastische Einschränkung dieser Finanzgeschäfte birgtdeshalb die Gefahr, dass die Agrarmärkte nicht besser,sondern schlechter funktionieren würden, was für dieangestrebte Bekämpfung des Hungers auf der Weltkontraproduktiv wäre.

In ihrem offenen Brief an Bundespräsident Gauck vom 19.Dezember 2012 verweisen die 40 Hochschullehrer, die sich imRahmen ihrer Forschung und Lehre mit dem Einfluss derSpekulation auf die Agrarrohstoffmärkte befassen,
ausdrücklich auf die von IAMO und MLU vorgelegte Analyseder wissenschaftlichen Forschung. Sie warnen davor,
Maßnahmen zu ergreifen, die das Gegenteil von dem bewirkenkönnen, was man für eine effektive Bekämpfung des
weltweiten Hungers benötigt. IAMO-Direktor Thomas Glauben:”Als Wissenschaftler ist es unsere Pflicht, öffentlich
darauf hinzuweisen, dass der Sachverhalt, um den es hiergeht, ganz anders gelagert ist, als es die alarmierenden
Darstellungen der zivilgesellschaftlichen Organisationennahelegen. Sicher gibt es zusätzlichen Forschungsbedarf, um
Effekte der Spekulation im Detail in unterschiedlichenSituationen noch besser zu verstehen, aber eine pauschale
Ablehnung ist wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen.”

Deshalb endet der Brief mit der an Bundespräsident Gauckherangetragenen Bitte, die Initiative zu ergreifen und

einen Dialog in Gang zu setzen. “In der öffentlichenDebatte über die Agrarspekulation ist eine Versachlichung
dringend erforderlich. Unser Anliegen ist, dass dieWissenschaft korrekt interpretiert wird und so einenkonstruktiven Beitrag zur Problemlösung leisten kann.Schließlich teilen wir alle das Anliegen, den weltweiten
Hunger wirksam zu bekämpfen”, sagt MLU-WirtschaftsethikerIngo Pies.